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Tilman Rammstedt: Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Veröffentlicht am 27. September 2013

Bruce Willis, Ihr Spam-Ordner ist voll!

von Anika Lehnert

Wir kennen das alle: Die Finanzkrise ist allgegenwärtig und zu allem Überfluss lässt die Gesundheit auch zu wünschen übrig (»abnehmende Sehstärke, Rückenbeschwerden, Knirscherschiene«). Da kann man schon mal melancholisch werden. Was hilft da besser, als sich mit seinem ehemaligen Bankberater, der noch viel melancholischer ist als man selbst, zu verabreden und über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens zu philosophieren, wie es gleich auf den ersten Seiten heißt: »Man kann kein Tagesgeldkonto verstehen, ohne zu verstehen, was ein Baum ist«.

Nach Der Kaiser von China, Tilman Rammstedts letztem, mehrfach prämierten Roman, ist unter dem Titel Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters nun ein actionreiches und aberwitziges Stück Literatur erschienen.
Mit den Worten »Sehr geehrter Herr Willis, geht es Ihnen gut?« beginnt der vierte Roman des studierten Philosophen und Literaturwissenschaftlers Rammstedt, der bereits auf der ersten Seite namentlich als Erzähler in Erscheinung tritt: »Mit freundlichen Grüßen, Tilman Rammstedt«.
Es werden zwei Erzählwelten aufgebaut, die einerseits von den Begegnungen des Schriftstellers mit seinem ehemaligen Bankberater berichten, andererseits die verzweifelten Versuche des Protagonisten Rammstedt dokumentieren, Bruce Willis als seinen neuen Romanhelden für sich zu gewinnen. Um so ärgerlicher, dass der Actionheld aus Stirb langsam einfach nicht auf die fürsorglichen Nachrichten des besorgten Autors antwortet: »Vielleicht erscheint Ihnen die Frage, ob es Ihnen gut geht, zu willkürlich […] Es ist nur so, dass ich zuletzt viel Zeit in Wartezimmern verbracht habe […] und dort las ich in einer Zeitschrift, dass es Ihnen zurzeit alles andere als gut gehe (Liebe, Körper, Beruf)«, wie der Schriftsteller in der dritten Email notiert.
Während der Ich-Erzähler eine abenteuerliche Geschichte eines Bankraubs mit seinem ehemaligen Bankberater entwirft, stellt sich schnell heraus, dass dieser melancholische Wegbegleiter wenig Potenzial zu einem Actionhelden in sich trägt. Nur Bruce Willis kann die beiden nun noch aus immer skurriler werdenden Situationen retten, sei es auf der Flucht per Fahrrad oder Ruderboot. Immer mit an Bord ist ein toter Hund, eine Katze war leider nicht aufzutreiben (denn auf Seite 49 des Romans lernen wir: »Bücher ohne Katze auf dem Umschlag würden sich einfach nicht mehr verkaufen«). Doch das Happy End scheint lange Zeit auszubleiben, wenn Herr Willis, trotz angebotenem Honorar von 500 Euro oder der Möglichkeit den Titel noch zu ändern, nicht reagiert. Da ist es nur nachvollziehbar, dass die Nachrichten des Schriftstellers immer energischer und verzweifelter werden.
Tilman Rammstedts neuer Roman besticht in erster Linie durch Kreativität und Erzählwitz. Der Leser wird jedoch auch durch eine ungewöhnliche Erzähltechnik herausgefordert, die an Wolf Haas’ Roman Das Wetter vor 15 Jahren erinnert, in dem ebenfalls ein fiktiver Autor im Vordergrund steht. Auf zwei Handlungsebenen fällt die Ausdifferenzierung von Wahrheit und Fiktion zunächst etwas schwer, wenn der Protagonist Rammstedt den gleichen Namen wie der Autor trägt. Das Spiel mit der Fiktion mündet letztlich in dem Clou, dass man den versprochenen Roman, indem Bruce Willis die Hauptrolle übernehmen soll, nun tatsächlich in den Händen hält. Sogar die obligatorische Katze hat es bis auf das Cover geschafft. Streckenweise erscheint die Erzählform in einseitiger Emailkommunikation, die anfangs noch sehr witzig ist, im weiteren Verlauf der Handlung etwas monoton. Doch gerade dieser Aspekt wiederum kennzeichnet die Erzählform des Romans.
Nicht zuletzt sorgen die in dreigliedrigen Klammern erfassten Argumente des Schriftstellers von Beginn an für komische Momente wie auf Seite 94: »Wir sitzen hier und freuen uns an all dem, was da ist (Ruhe, Details, unsere Bekanntschaft) und auf all das, was noch kommt (der nächste Schritt, der übernächste Schritt, ein glückliches Ende)«.
Trotz allen Schmunzelns über das phantasievolle Schreibabenteuer verbirgt sich hinter den verzweifelten Nachrichten an Bruce Willis der Wunsch, ein Actionheld könnte uns durch die Tiefen des Lebens tragen. Man wüsste, es würde hart werden und man trüge Blessuren davon, aber wie in jedem guten Stirb Langsam-Film würden die Guten gewinnen. So heißt es auch im Roman gegen Ende: »Nur damit du dir keine Sorgen machst […] es wird alles gut werden.
Ich weiß noch nicht genau wie, aber das wird es«.

Tilman Rammstedt: Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters. Dumont, 2012, 18,99 €. E-Buch 14,99 €.

Tor Ulven: Dunkelheit am Ende des Tunnels

Veröffentlicht am 26. September 2013

Bedenkliche Geschichten
Zu Tor Ulven: Dunkelheit am Ende des Tunnels

von Ali Zein

Wenn die Uhr zur Nacht schlägt, ist die Zeit gekommen, in der Tor Ulvens Prosa die Münder zu sprechen aufklappt. Gleich die erste Geschichte »Ich schlafe« zeigt Ulvens Nighthawks während einer Pause auf ihrem Flug in die Nacht. Es ist kurz nach drei, morgens, und wir werden nun für zehn Minuten lang zuhören: einem schick gekleideten Paar, das einem Kellner und einem alten, dreckigen Fettsack in einem drittklassigen Nachtcafé gegenübersitzt, welches in jeder größeren Stadt stehen könnte und in dem sich Gestalten herumtreiben, die von der Nacht nicht wissen, dass sie auch zum Schlafen da ist, ohne dass die Vier ein einziges Mal miteinander zu reden begönnen. Wir sehen sie aus irgendeinem Fenster heraus, schauen durch die Augensockel einer alten Frau, die unsichtbar für ihre Beute, wie eine Eule in der Baumkrone sitzt, und von ihrer Langeweile und dem Schnarchen des »Scheusals« neben ihr erdrückt zu werden droht. Unentwegt spricht jemand, trotzdem herrscht unheimliche Stille. Würden wir den Figuren nicht unter die Schädeldecke hören, wäre alles, was wir hörten, das Umfallen eines Pfefferstreuers, am Ende ein Knall – die Alte mutmaßt, war das ein Pistolenschuss oder Auspuffrohr. Gerade da erfahren wir nichts mehr, sie schließt die Augen, um zu schlafen, und mit ihren Augen die unseren. Der besondere Clou liegt in der Form. Ulven legt diesen zehnminütigen Voyeurismus als ein narratives Newtonpendel an, in dem mit jedem Absatzwechsel auch die Perspektiven und Stimmen wechseln und so jeder Gedanke, den die eine Figur in die stille Einsamkeit der Nacht hineindenkt sich wie ein Mosaikstein neben die Gedanken eines anderen stellt, ohne dass die Figuren sich auch nur einen Millimeter näher kämen, während sie verstohlene Blicke aufeinander richten und sich in Gedanken umkreisen und wünschen ihre eigene Tristesse und Belanglosigkeit gegen das als erfüllt imaginierte Leben ihres Gegenübers zu tauschen.

Nun ist eine solche Erzählkonstruktion von anderen bekannt, etwa aus Joyces »Irrfelsen«-Kapitel im Ulysses, doch Ulven verleiht seinen Figuren eine ganz eigenwillige Art zu sprechen, die eine Skala von Widerwärtigkeit über Mitleid bis zu trockener und sarkastischer Ironie abdeckt und manchmal wirklich zum lauten Lachen reizt. Das Unikum an Ulvens Sprache ist dabei, dass sie eigenartig unverbraucht in ihren Gedanken und Wörtern wirkt, obwohl sie es nicht unbedingt ist.

Auf dem hinteren Klappentext kann man lesen, dass Tor Ulven, geboren 1953 in Oslo, in den frühen 1970ern als bildender Künstler begann und 1976 auf der World Surrealist Exhibition ausstellte. Vor diesem Hintergrund wird eine zweite Besonderheit seiner Prosa klar, nämlich weshalb Bilder eine so imminente Rolle in seinen Texten spielen. Immer wieder versteckt er Anspielungen auf die Bildenden Künste. Die Anfangsgeschichte »Ich schlafe« ist gar als eine erzählerische Umsetzung von Edward Hoppers Nighthawks lesbar, auf dessen bildhafte Hermetik Ulven fast schon mit einer parodistischen Offenheit klaustrophobischer Mitternachtsbelanglosigkeiten antwortet.

Die vielleicht schönste Geschichte der Sammlung ist »Knochenklang«, die wohl radikalste der Abschlusstext »Ungeschrieben«. In »Knochenklang«, die musikalische Klänge als Metaphern durchwirken, ist der ganze Text in kleine Bewusstseinfragmente zertrümmert, ohne dass man entscheiden kann, ob es sich um reale oder fiktive, aktuelle oder erinnernde handele. Dem Leser kommt die Rolle zu, das Puzzle zusammenzusetzen und so die Geschichte eines jungen Mannes zu rekonstruieren, dem er je nach Lösung das Leben rettet oder ihn in die Hölle einer nie enden wollende »Musikbusfahrt« stößt.

In »Ungeschrieben« löst (oder sollte man sagen: löscht?) sich der Sprecher auf: »Ich existiere nicht. […] ich habe auch nie existiert, selbst in der fernsten Vergangenheit nicht […] oder in Zukunft« (129). Und doch zeugt er damit von den logischen Widersprüchen einer solchen Bewusstseinsselbstauslöschung. Hier entpuppen sich die Texte als Versuche der Aufgabe im doppelten Sinn: Sie wollen zur Grenzerfahrung des Endes vordringen, nicht mehr reden und vielleicht nicht mehr bewusst sein müssen, wissen aber um die unauflösliche Spannung, dass Erfahrung Bewusstheit erfordert und geben auf. Hiervor ist eventuell der norwegische Originaltitel Vente og ikke se (»Warten und nichts sehen«) lesbar.  Gerade diese letzte Geschichte wurde im deutschen Feuilleton als der Höhepunkt eines durchweg depressiven, todessehnsüchtigen Buches gelesen.

Wenn wir an den biographischen Umständen interessiert wären, die die angebliche Geburtskammer eines solchen Buches bildeten, könnten wir sagen, es war Ulvens letztes Buch, denn nach Vente og ikke se hat er sich aufgehängt. Ab jetzt aber halten wir diese Tür wieder verschlossen, damit das dahinter dräuende Klischee ein so wunderbar ironisches, intelligentes und avanciertes Buch nicht erdrückt. Besser klingt es, dass Dunkelheit am Ende des Tunnels Ulvens erstes auf Deutsch vorliegendes Buch ist und dass es dem deutschsprachigen Leser genügend Beweise liefern wird, sich zu erklären, weshalb Tor Ulven achtzehn Jahre nach seinem Tod als einer der wichtigsten Nachkriegsautoren Norwegens gilt. Es ist also höchst erfreulich, dass ein Wiener Verlag darauf aufmerksam gemacht hat, dass es ihn gibt, dass man ihn auch in Deutschland entdecken kann, wo ihm nicht mal das KLfG einen Eintrag widmet.

Worauf der Verlag hätte verzichten können, ist dieses weiß-goldene Edeltrödeldesign mit dem großen schwarzen Sog auf dem Cover. Das wirkt unfreiwillig witzig, wenn man den titelgebenden Text, der »Eine nicht-pornographische Geschichte« untertitelt ist, darauf bezieht. Denn die Dunkelheit am Ende des Tunnels verweist auf die Dunkelheit einer beim Anblick kopulierender Mücken fantastierten Vagina. Dieses Buch ist keine Bettlektüre, die man nachts zur Seite legt, Ulvens Prosa ist die Erzählung der Nacht. Könnten deutsche Schriftsteller was von Ulven lernen? Dies ist eine rhetorische Frage.

Tor Ulven: Dunkelheit am Ende des Tunnels. Geschichten. Aus dem Norwegischen von Bernhard Strobel. Droschl Verlag, 2012,  19,00 €.

Dietmar Dath: Pulsarnacht

Veröffentlicht am 26. September 2013

Metamatrix und Hüter der lebendigen Schrift
Dietmar Daths SF-Roman Pulsarnacht ist Raumflughafen in ein riesiges Lektürenetzwerk

von Britta Peters

Elegante Multidimensionsraumschiffe fliegen zu den Sternen,  gefüllt mit tüchtigen Besatzungen kooperierender Zivilisationen, zu denen auch die Menschheit zählt. Gnadenlos schön ist dieses Universum, die computeroptimierten Menschen sind es, die lebenden Satelliten, die Essgewohnheiten superkluger Aliens und die grandiose, als mächtige Sphäre um einen  Pulsar herum konstruierte Hauptstadt des Herrschaftsbereiches der Menschen. Angeführt wird das Imperium von Shavali Castanon, siegreich über ihren rebellischen Konkurrenten, den alle flüsternd nur den Shunkan nennen. Das hat das Zeug zu einer Space Opera und es wird sich zeigen, dass Dietmar Daths Pulsarnacht genau das
ist – und noch viel mehr.

Pulsarnacht hat 2013 den Kurd-Laßwitz-Preis für den besten deutschsprachigen SF-Roman gewonnen, wie sein Vorgänger Die Abschaffung der Arten schon 2009. Die Fachjury mag Herzklopfen gehabt haben nach der Lektüre, denn der Autor dieser Bücher wird ein eigenes Kapitel in der Geschichte deutschsprachiger Science Fiction bekommen, das Revier hat spätestens Pulsarnacht sicher markiert. Dietmar Dath, Literaturwissenschaftler mit Umweg über die Physik, FAZ-Feuilletonredakteur, ist ein vielseitiger Autor von 15 Romanen, einer Rosa-Luxemburg-Biografie und Überlegungen zu einem neu zu denkenden Sozialismus.

Was rechtfertigt nun die Hymne auf einen Roman, der als Genreliteratur firmiert – und über dessen Überdrehtheit und Eitelkeit der mit Fremdwörtern und fiktiver Fachsprache angereicherten Textoberfläche arglose Buchkäufer (und diverse Feuilletonisten) trotz cremefarbener Raumflotte und Space-Echsen ein beinahe einstimmiges Lamento anstimmen?
Es stimmt, Dath lässt uns nicht mit träger Schmökerlaune davonkommen, man muss sich schon einlassen auf die abrupt einsetzende Geschichte, der keine Erklärung ihres Universum vorangeht. Es gibt ein Glossar (mit einigen Finten), das aber Rätsel eher aufwirft als löst.

Wir starten mit einer Katastrophe, eine Soldatin sitzt nach einer missglückten Mission im Schlamassel und erzählt in Rückblende, wie es dazu kam. Ihre Schiffsbesatzung sollte eine Generalin finden, Auftraggeberin ist besagte Präsidentin Castanon, die die Raffinesse der Untergetauchten unterschätzt hatte. Freundlicherweise lässt diese sich aber von der Soldatin mit zurück in die planetengroße Hauptstadt der Menschheit bringen, wo sie wiederum, heimgekehrt und von der Präsidentin geliebt, mit einer eigenen Rückholmission beauftragt wird.  Noch vor dem Antritt ihrer Reise erfährt die Generalin von der gemeinsamen Tochter mit der Präsidentin, Geschlechterrollen und biologische Geschlechter sind fließend geworden für die zukünftige Menschheit. Der Erzgegenspieler der Präsidentin soll überzeugt werden, nach versöhnlicher Geste (und nach einem grausamen Kriegsgeschehen) aus der Verbannung heimzukehren, jener Mann, der mit seinen letzten Getreuen in Luxus eingekerkert in einem lebenden Planetoiden auf bessere Zeiten wartet und sich körperlos ins All träumt.

Begleitet wird dieses Ringen um Macht und Nähe von einer Regierungskrise, die schließlich zur Absetzung der Präsidentin führt, was mehrere, mit der Menschheit lose verbündete Alienzivilisationen interessiert verfolgen. Da sind die Binturen, »Hundeartige«, vierbeinig und extrem hochbegabt, die Skyho, rätselhafte Nichthumanoide, die in Sinnsprüchen kommunizieren, die Custai, dem äußeren Anschein nach »Reptilien«, kapitalisitisch und gewinnorientiert und nicht zuletzt deren versklavte Nutztiere, die Dims. Die wirken provozierend menschenähnlich, nur größer sind sie und nicht geeignet zur  Aufrüstung mit künstlichen Ergänzungen des Nervensystems, die über Backups und andere Mittel das Individuum praktisch unsterblich machen – sofern die Regierung das erlaubt. Diese Interessengemeinschaften und Kulturen steuern auf ein Ereignis zu, das eben diese gezüchteten Sklaven mit ihren lebendigen Tätowierungen und Lagerfeuernächten in hartnäckig tradierten Mythen voraussagen. Die »Pulsarnacht«, ein kosmisches Ereignis, bei dem alle Pulsare ihre Aktivitäten aussetzen und dabei von jedem beliebigen Ort aus beobachtet werden, was nach physikalischen Gesetzen unmöglich ist. Die Dims, für die die computersymbiotischen Menschen in etwas trotziger Distinktion gegen ihre Nicht-Aufrüstbarkeit mit Gehirnbauteilen das Schimpfwort »Trübe« geprägt haben, werden von den vermeintlich Unvermögenden, die sich mit ihnen traditionelle Menschennamen teilen, wiederum »Scheinzelne« genannt. Es ist früh zu ahnen, wie weit es mit den Unterschieden wirklich her sein mag.

Man kommt nicht daran vorbei, Pulsarnacht politisch zu lesen, als galaxienweites Bühnenstück von der Konkurrenz zwischen Gesellschaftssystemen, Kapitalismus und Sozialismus, Freien und Leibeigenen, Max Stirners »Einzigem« und seinem Eigentum und Hegels »Trüben Völkern«. Und man kommt doch daran vorbei, denn man landet, nimmt man das Angebot an, schnell bei weiteren Lektüren. Wer Spaß daran hat, die intertextuellen Spuren über den schieren Plot des Romans hinaus zu verfolgen, kann teilnehmen an Daths Spiel mit einem ganz eigenen Kanon aus Politik, Philosophie und Pop.

Niemand muss Sozialist sein, um Pulsarnacht zu genießen, aber es hilft, gerne und viel zu lesen. Es gibt reichlich Möglichkeiten, korrespondierenden Texten nachzugehen. Dath selbst nennt in seinem Nachwort zwei SF-Romane als Grundlage seines Gedankenexperiments der verschmolzenen Nicht-Vereinbarkeiten, nämlich den Klassiker Die Leben des Lazarus Long von Robert A. Heinlein und We who are about to von Joanna Russ. Beide seien einander ausschließende weltanschauliche Entwürfe, die marxistische Feministin, der zwischen anarchistischer Selbstbestimmung und sexistischem Sozialdarwinismus changierende Freigeist Heinlein.

Andere Wurzeln und Echoräume erschließen sich über die Bande. Ganz sicher ist Pulsarnacht ein Panorama (oder experimentum crucis?) der Thesen aus Daths Essay Maschinenwinter (2008). Wer beide Texte liest, stößt auf die Idee von der Evolution des Universums, der technologischen Singularität, einem Zeitpunkt überlegener künstlicher Intelligenz, die sich selbst verbessert und eine Spaltung der Menschheit in Posthumane und Abgehängte zur Folge hat. Maschinenwinter zitiert Foucault: »Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch ihr baldiges Ende. […] wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, diese Dispositionen ins Wanken gerieten […], dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« Ob die Handlung darauf hinausläuft oder ein solches Ereignis bereits weit in der Vergangenheit der Romanwelt stattgefunden hat, darüber kann man nachdenken…

In Maschinenwinter trägt eine »befreundete Biologin« zum Gedankenfortgang bei und ein Dialog, eine doppelte kosmische Autorschaft, ist möglicherweise die Grundlage des transzendierten Universums der Pulsarnacht.
Maschinenwinter vorangestellt ist das Zitat einer gewissen Ellen May Ngwethu, die sich nicht als Friedensnobelpreisträgerin oder feministische Autorin entpuppt, sondern als literarische Figur. Ein weiterer SF-Autor kommt ins Spiel, Ken MacLeod mit einer Romanreihe, die im sozialistisch regierten Sonnensystem spielt, in dem eine technologische Singularität posthumane Computerwesen zu Antagonisten der Menschheit gemacht hat. Der dritte Band der Reihe, Die Cassini-Division, endet mit der Aussicht, dass ein Teil der Menschheit von Maschinen als Wirtskörper übernommen wird. Wer die Cassini-Division und Pulsarnacht liest und  Daths Artikel über Heinleins Verdienste um die »Future History« kennt, kann Daths Roman als diskrete, in weite Zukunft verlegte, Fortsetzung der Ereignisse in
MacLeods Roman zu lesen. Autorübergreifende Future History ohne Bewusstsein der Figuren für ihre Herkunft, das wäre ein Plot für Philip K. Dick gewesen. Und in der Tat finden sich in den von Protagonisten der Pulsarnacht geschriebenen poetischen Gleichnissen Elemente, die an Dicks Palmer Eldritch erinnern, der seinem an künstlichen Realitäten zerbrochenen Alter Ego anbietet, er könne alles sein, sogar ein Stein.

Auf Heinleines Stranger in a Strange World, in dem die Menschheit vor dem Abgrund ihrer Vernichtung durch eine vollständig fremdartige, überlegene Marszivilisation steht, verweist der Name der Soldatin, die uns in die Ereignisse einführt, parallel zum Namen ihrer Geliebten aber auch auf die Schriftstellerinnen Valentine Ackland und Sylvia Townsend Warner. Auf die Legende vom »Shunkan«, einem rebellischen Mönch aus den Heike Monogatari (Erzählungen von den Heike), einem Klassiker der japanischen Literatur, verweist der Name des Antagonisten der postsozialistischen Herrscherin. Wer Pulsarnacht geschätzt hat, wird von dort aus weiterlesen. Vielleicht den Implex, Dietmar Daths und Barbara Kirchners theoretischen Rundumschlag mit dem Untertitel »Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee« (2012). Oder zur Klärung der Beziehung zwischen Marx und Hegel den kurzen Band Karl Marx. Philosophie für Einsteiger (2013).

Man kann sich stören an Daths elitären politischen Ansichten, einem intellektuellen Sozialismus 2.0 mit ironisch getragenem Leninbärtchen, der so nur im sonnigen Freiburg zwischen bravelterlichen Dörfern reifen kann. Oder an einem wie schon in Abschaffung der Arten erbarmungslosen Weltbild mit planetenweise ausgelöschten Evolutionsverlierern. An der mangelnden Bereitschaft, die Leser abzuholen, an Terminologieverliebtheit, dem Verzicht auf klassische Plotmuster zur Auflösung der Story. Oder man begeistert sich für die Schönheit des Romans, der bis in seine letzten Details Spaß macht. Die emotionale Dichte der in die Handlung eingeschobenen Gleichnisse, die Links zu anderen Texten und seinen Humor. Wenn ein außerirdischer Gesandter wie ein »umgestülpter Blumentopf« aussieht,  fehlen nur noch aufgeklebte Noppen, um den Look der formidablen Daleks aus der Serie Dr. Who perfekt zu machen.

Die Abschaffung der Arten hat nach einer Graphic Novel gerufen (und ein Hörspiel bekommen), Pulsarnacht ruft nach seiner Verfilmung. Nicht fürs Kino, sondern als Serie, hier werden wir ein Ende erleben, das uns nicht wie das von Lost enttäuscht. (Oder doch? Eine Serie, deren letzte Folge nicht enttäuscht, hat einen nicht begeistert.) Man kann vor Pulsarnacht warnen. Es ist nicht für jeden gemacht, und überfordert bewusst auch Fans des Genres. Empfohlen sei dieser ausgezeichnete Roman aber allen, die schon die Abschaffung der Arten mochten, die Philip K. Dick auf die Eisschollen brüchiger Realität folgten und denen, die sich nicht erschrecken lassen durch einen selbstbewussten Ton, der sich aus Lektüren eines eigenen Kanons speist und dessen Kenntnis einfordert. In gewisser Hinsicht ist Pulsarnacht fast mehr Handbuch und spannender Fundus als ein bloßer, in sich geschlossener SF-Roman. (Ken MacLeod soll sich seine Story wiederholen und die Fortsetzung der Fortsetzung schreiben!)

tl:dr
Was hat diese Rezension nicht getan? Den Plot erklärt, die Pointe. Was hat sie getan? Den Text einer kleinen Gruppe von Leserinnen und Lesern mit SF-Affinität ans Herz gelegt, und zwar innig. Was tun alle anderen? Erst einmal zu Ken MacLeod oder Heinlein oder Joanna Russ oder Daths Essay Maschinenwinter greifen.

Dietmar Dath: Pulsarnacht. Heyne, 2012, 13,99 €, E-Buch: 10,99 €.

Lokalhelden

Veröffentlicht am 5. September 2013

Kulturtreibende, Autorinnen und Autoren der Region stellen wir in der fusznote in unserem Format „Lokalhelden“ vor.

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Veröffentlicht am 5. September 2013

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