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Fritz J. Raddatz: Bestiarium der deutschen Literatur

Veröffentlicht am 9. Oktober 2013

Literatur-Safari mit Giftschlange
Fritz J. Raddatz nimmt uns mit auf eine Tour durch die Autoren-Tierwelt

von Philipp Kressmann

Was für ein Tier wäre eigentlich Böll? Was hat Grass mit Aalen gemeinsam? Warum kann man Dürrenmatts Erzählstil mit den Fäden einer Weinbergschnecke vergleichen? Solche Fragen stellt sich Fritz J. Raddatz in seiner Freizeit. Der Autor, ehemaliger Feuilletonchef der ZEIT und Vorsitzender der Kurt-Tucholsky-Stiftung, hat bereits Biografien über Benn und Rilke verfasst und wurde in den 70-er und 80-er Jahren durch engagiert-eigensinnige Literaturkritiken und Essays bekannt. Selbst Marcel Reich-Ranicki fand bisher nur lobende Worte für seinen Kollegen. Spätestens mit seinen
2010 erschienenen Tagebüchern erwies sich Raddatz als ebenso unkonventionell-witziger wie bitterböse-hämischer Kulturbetriebsbeobachter.

In seinem neuem Buch Bestiarium der deutschen Literatur macht er diesem Ruf nun wieder alle Ehre – und orientiert sich diesmal formal am Modell der 1922 publizierten Sammlung Großes Bestiarium der Literatur von Franz Blei, indem er berühmte deutsche Schriftsteller der Gegenwart als exotische Tiere porträtiert. Das Konzept geht auf: Raddatz’ Satire besticht und funktioniert vor allem durch ihren  suggerierten wissenschaftlichen Ernst. Wie es sich für einen ordentlichen Forschungsbericht gehört, wird in der Quellenangabe sowohl Grzimeks Enzyklopädie als auch Brehms Tierleben aufgeführt. Die Verhaltensmuster der beschriebenen Tiere sind nämlich keineswegs erfunden und den dargestellten Autoren willkürlich übergestülpt, sondern stützen sich auf zoologische Kenntnisse, auch wenn Raddatz in einer editorischen Notiz am Ende seines Bestiariums einräumt, dass man es eher mit einem »Schmunzel-Brevier« als mit einer wissenschaftlichen Arbeit zu tun hat.

Raddatz selbst entpuppt sich als talentierte Giftschlange, zum Beispiel wenn Jürgen Habermas – dessen Hauptwerk ja gerade die Theorie des kommunikativen Handelns ist – als kommunikationsunfähiger Primat abgehandelt wird, dessen völlig rätselhafte Verständigungssprache bisher noch nicht einmal von einem internationalen Dechiffrierkartell entschlüsselt werden konnte. Extrem amüsant ist auch das Profil von (dem nicht gerade als zugänglich geltenden) Thomas Bernhard geraten, der sich literarisch besonders für den Tod interessiert hat. Er wird von Raddatz als »fledermausartiger Totenvogel« beschrieben, der »vornehmlich auf Friedhöfen oder in Spital-Gärten nistet und als »bösartig gegenüber seiner Umwelt gilt.« Diese hämische Tiervergleichs-Komik  mag manchmal ein wenig affig wirken, aber sie ist stets pointiert verfasst und zeitweilig sogar erstaunlich plausibel. Ebenso, wenn es auch Peter Härtling, der größtenteils Kinderbücher verfasste, an den Kragen geht. Spöttisch wird er von Raddatz als »behäbige Raupe« beschrieben, »die wider Erwarten der Wissenschaftler sich nie zu einem Schmetterling verpuppte, sondern nach vielen Mutationen […] immer nur ein Kriechtier blieb.«

Daneben gibt es aber auch Passagen, die zu wenig schlüssig geraten sind, weil sie zu viele Interpretationsmöglichkeiten bieten. Im Portrait über Martin Walser etwa wird dieser als geübter Tauchvogel präsentiert, der alles versucht, um nie an die Wasseroberfläche zu kommen. Doch was soll das bedeuten? Wird Walser hier für sein tiefenpsychologisches Gespür gerühmt? Oder meint das auf metaphorischer Ebene, dass Walser krampfhaft und unnötig kompliziert schreibt? Nicht immer setzt also ein Aha!-Effekt beim Leser ein, letzten Endes doch das wichtigste Indiz einer gelungenen Pointe. Zu viele Insidergags sorgen mitunter dafür, dass Raddatz’ Ausführungen streckenweise zu ambivalent geraten. Trotz lebhafter Darstellungen (der Illustrator Klaus Ensikat hat für jedes Porträt eine Zeichnung beigesteuert) und wendiger Formulierungen vermisst man bei einzelnen Porträts die Ähnlichkeit des dargestellten Tieres zum Autor.

Doch zum Glück sucht man sie bei den meisten Abhandlungen nicht vergeblich. Die Beschreibungen haben es einfach in sich. Was aber gleichzeitig nicht heißt, dass es sich beim Bestiarium der deutschen Literatur um allzu leichte Unterhaltungslektüre handelt. Raddatz ist ein echter Fuchs: Genauso, wie er es versteht, glanzvoll zu unterhalten, wird der Leser auch von ihm gefordert. Das zoologische Wissen ist dabei eher irrelevant, doch der literarische Background der jeweils skizzierten Autoren wird jeweils vorausgesetzt. Um also beispielsweise zu verstehen, warum es durchaus ein Lacher ist, dass Alexander Kluge als »Mischzüchtung […], die zwei kooperierenden Forscherteams renommierter Universitäten gelungen ist«, beschrieben wird, sollte man wissen, dass Kluge sowohl Schriftsteller als auch Filmemacher ist. Wegen Fällen wie diesen ist Raddatz’ Bestiarium eine implikationsreiche Satire, die aber trotzdem nichts an Unterhaltungswert einbüßt. Eine Kunst, die Raddatz größtenteils spielerisch mit diesem Buch gelingt. Der Autor selbst bezeichnet sich am Ende übrigens als »Prachtleierschwanz«, der über viele verschiedene Gesangstile verfügt (»Spott-Töne des Wippflöters wie zarte Balzlaute«) und als einer der stilvollsten Singvogelexemplare gilt.  Ob das passt oder nicht, sei dahingestellt. Klar ist aber: Ein Chamäleon oder ein Rudeltier ist der eigenwillig-fantasievolle Raddatz sicher nicht.

Fritz J. Raddatz: Bestiarium der deutschen Literatur. Rowohlt, 2012, 19,95 €. E-Buch 16,99 €.

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