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Marcel Lepper: Philologie zur Einführung

Veröffentlicht am 9. Oktober 2013

Die Zukunft der Philologie ist ihre Genealogie

von Ali Zein

Im alltäglichen Sprachgebrauch scheint sie schon längst ausgestorben, allein im bürokratischen spukt sie noch herum, und treibt ihr das nicht eher noch den Sargnagel tiefer? Ich rede von der Philologie. Bekanntlich studiert man ›-istiken‹, und wenn ›-istik‹ nicht passt, auch mal ›‑logien‹; auf die Frage, was sie studieren, antworten Studenten dieser Fächer mit ›Anglistik‹, ›Germanistik‹, ›Romanistik‹, ›Sinologie‹, usw. – wer aber sagt schon ›germanistische‹ oder gar ›deutsche Philologie‹? Klingt das nicht nach Bismarck- und Hindenburgdeutschland? (In der Tat die Zeit der Hochblüte.) Überhaupt, was sollte das sein, eine Wissenschaft von der Liebe zum Wort? Umfasst das nur eine oder mehrere Sprachen? Zudem, gehören auch die älteren Literaturen, etwa des Mittelalters, dazu oder meint man wie so häufig bloß die Literatur um und ab der ›magischen‹ Grenze 1800? Oder ist das gar nur Linguistik?

Dass das in der Breite nicht klar ist, wird auch am internationalen Fachdiskurs deutlich, der keine feste Definition kennt, was ›Philologie‹ ist und was sie sein sollte. Wovon man redet, wenn man in England von philology redet, ist etwas anderes, als wenn man in Deutschland von ›Philologie‹ spricht (und ›Textkritik‹ meint) oder in Frankreich und Spanien philologie bzw. filología sagt. Während erstere ›Linguistik‹ meinen und philology sagen, streben die beiden letzteren an, sowohl linguistische, literarische als auch text- und editionskritische Studien zu umfassen. Das umschreibt in etwa das glanzvolle Elend einer Philologie, die nicht bloß die Summe der einzelnen Philologien sein will.

Insofern ist es von Marcel Lepper schon mutig, eine Einführung zu einem Fach zu schreiben, das es nicht gibt. In ihr unternimmt er den Versuch, die Philologie für Anfänger und interessierte Laien aufzuziehen und liefert damit eine Mischung aus Sach- und Fachbuch. Sachlichkeit der Informationen und des Stils zeichnen  Leppers Buch aus, Wissenschaftssprache ist rar. Sein Buch gliedert sich in sieben Teile, in denen er Definitionsvorschläge macht, einen kurzen geschichtlichen wie institutionellen Abriss gibt und nach den Erkenntnismethoden und -gewinnen fragt.

Im ersten Kapitel nähert er sich wortgeschichtlich seinem Gegenstand und spielt vier Definitionen für ›Philologie‹ durch, von der ›Liebe zum Wort‹ über das wissenschaftliche Interesse an Sprach- und Textstrukturen bis zur akademischen Disziplin. Verstärkt wendet er sich dann ihrer Sachgeschichte zu, wobei Lepper sehr interessant die institutionellen Bedingungen (Bibliothek, Archiv, Museum, Universität) zu schildern im Stande ist. Im Grunde hat das Buch eine Spiegelstruktur, wenn ›Philologie‹ im vorletzten Kapitel (»Konjunkturen«) wieder institutionell (mit dem Schwerpunkt Fach- und Sachgeschichte) abgehandelt wird und das letzte Kapitel (»Habitus«) definitorisch versucht, eine Soziologie der Philologie zu liefern, in der z. T. aber heillose Klischees bedient werden.Redundanzen entstehen jedoch kaum.

Obwohl Leppers Einführung eine kleine Ideengeschichte der Philologie zu sein scheint, bleibt er merkwürdig synchron. Zwar arbeitet er durchgängig definitions- und forschungsgeschichtlich, verharrt dabei aber auf der Ebene gültigen Lexikonwissens. Doch Aktualität historischer Wissensbestände ist nicht dasselbe wie Historie. Das kann auch das spannende und wunderbar anti-eurozentristische Kapitel über globale, philologische Traditionen nicht ändern, wozu es leicht zwanzig Seiten mehr bedurft hätte. Denn leider leistet sein Überblick nicht mehr als die Benennung dieser Traditionen. Werden geschichtliche Bezüge gegeben, dann fast ausschließlich als Attacken auf die »Erfolgsgeschichten« einer sich geschichtsphilosophisch interpretierenden Philologie der Spätromantik im 19. Jahrhundert. Die Geburtskammer der modernen, europäischen Philologie aber gehört ins ins 18. Jahrhundert und ihre Hebammen sind die Ästhetik, Poetik und Hermeneutik.

Dahinter mag der Versuch stehen, die Aktualität von Philologie zu betonen. Lepper macht das besser als viele Bücher der letzten Jahre, die sich dem Thema widmeten. Doch Philologie ist eine Tätigkeit des Vorgestern im mehrfachen Sinne. Sie beginnt als Arbeit am Heiligen, an der Konservierung und Kommentierung des pneumatischen Logos, und auch in Zeiten ihrer Säkularisierung bildet das Heilige ihre Rückseite wie ein Goldhintergrund Klimts – wozu ein Blick auf die Geschichte unserer Kanonpflege genügt. Ihren Sitz hat sie in der Vergangenheit der undifferenzierten Disziplinen. Nicht umsonst war der Grammatiker der Antike auch ihr Universalgelehrter. Aber auch ihre Zukunft gründet im Vorgestern, was besonders die lexikographischen Großprojekten zeigen, etwa das Deutsche Wörterbuch mit 123 Jahren Laufzeit.

In Zeiten sich rapide ausdifferenzierender Fächer im Gesamtspektrum aller Wissenschaften, in denen selbst die immatrikulationsrelevanten Selbstbezeichnungen wie Dinosaurier zu wirken beginnen, ist Philologie ein Fossil aus der Zeit, in der das Leben entstand. Auch ihre in den letzten Jahren versuchten Neuerfindungen durch Gumbrecht et al., die ihr für eine angebliche Sorgfalts-, Genauigkeits- und Disziplinkultur den Ehrendoktor aufsetzen wollen, täuschen nicht über die Tatsache hinweg, dass sie dem Gorgonenhaupt längst ins Gesicht gestarrt hat. Diese Versuche verschleiern bloß, dass die Missstände an deutschen Unis Konsequenzen der verpatzten Bologna-Reformen sind und nicht weil die Philologie als bildungsbürgerliches Tugenddiplom abgeschafft wurde.

Dass die Philologie ihren Hoheitsstatus als Leitwissenschaft verloren hat, ist auch so eine Geschichte des Vorgestern, eine nicht beklagenswerte. Gerade als Hilfswissenschaft bleibt sie unentbehrlich. Philologie in der Leichenstarre konstitutioneller Monarchie zu konservieren, kann nur falsch sein. Vielmehr gilt: Setzen wir Philologen uns ins Archiv und arbeiten diese Geschichte auf. Leppers Einführung ist ein erster Schritt dazu. Schreiben wir uns nicht auf die Fahne:
La philologie est morte, vive la philologie!

Marcel Lepper: Philologie zur Einführung. Junius, 2013, 13,90 €.

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