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Die Banalität der Böswilligkeit – Louis-Ferdinand Célines Reise ans Ende der Nacht ist kein klassischer Weltkriegsroman

Veröffentlicht am 6. Februar 2015

von Christian Wobig

»Ich bin kein Misanthrop, ich hasse einfach nur Menschen« – diese Worte des Bochumer Kabarettisten Jochen Malmsheimer könnte man auch die literarische Reizfigur Louis Ferdinand Céline angesichts des vorliegenden Werkes von 1932 in den Mund legen – und für diesen Hass, diese Abneigung, das wird schnell klar, hat er auch allerlei Gründe. Der Erste Weltkrieg, an dem er beinahe aus Versehen teilnimmt, ist zwar das Extrem der gesellschaftlichen Spaltung und Ausnutzung, doch ist er nach Célines Meinung eben nur die ›Fortsetzung der friedenszeitlichen Unterdrückung mit anderen Mitteln‹.

Hauptfigur in Célines Roman ist Ferdinand Bardamu, dessen Geschichte mit einem ganz persönlichen »August-Erlebnis« beginnt. Als junger Pariser Medizinstudent und schließlich Soldat im Ersten Weltkrieg, Kriegsneurotiker, Kolonialverwalter in Afrika, illegaler Einwanderer und später auch als Angestellter im US-Gesundheitssystem vagabundiert er durch die Welt. Zuletzt beendet er in Frankreich sein Medizinstudium und arbeitet zunächst als Armen-, dann als »Irrenarzt« und schließlich als Klinikchef in einem Pariser Vorort.

Bardamu verfügt von Anfang an über jenen misanthropischen Blick auf die Menschen, der ihm jedes noch so kleine Glück aufs Schnellste verleidet, weil er als fad und unecht durchschaut. Den Krieg durchleidet Célines Bardamu in ständiger Todesangst, getrieben zwischen dem »bisschen Sterben gehen« am Tag und der Schufterei im nächtlichen Feldlager, immer auf der Suche nach dem sich nie bietenden Ausweg. Als er sich schließlich gefangen nehmen lassen will, trifft er auf Robinson, der das gleiche Ansinnen hat und dem er in den folgenden Jahren immer wieder begegnen wird.

Nach dem Krieg bleibt Bardamu noch eine Zeitlang in Paris, flüchtet jedoch vor der Armut auf ein Schiff nach Afrika, um in den französischen Kolonien als Verwaltungsbeamter zu arbeiten. Doch in der Hitze des schwarzen Kontinents, stellt Bardamu fest, »zeigten die Weißen ihren wahren Charakter; er wurde dem entsetzten Beobachter völlig hüllen- und hemmungslos zur Schau gestellt. Man lernte die wirkliche Natur des Menschen kennen, so wie seinerzeit im Krieg.« In den Tropen offenbart sich der ganze Wahnsinn des kolonialen Unternehmens, schmelzen die versprengten Kolonialbeamten in der Hölle des Dschungels förmlich dahin; Bardamu flieht nach Amerika, gerät als Flohstatistiker in das Gesundheits- und Einwanderungssystem der Vereinigten Staaten und arbeitet für einen Hygienebeamten, der Mischief (zu Deutsch: Unsinn) heißt. Zurück in Frankreich beendet er sein Medizinstudium und praktiziert als von seinen Patienten geprellter und verachteter Armenarzt in Paris, bis er später in den Dienst einer »Irrenanstalt« eintritt.
Unter der Oberfläche der Zivilisation, so zeigt es Célines Roman, herrscht auch im Frieden noch Krieg und grausames Gemetzel, in dem Menschen erbarmungslos gegeneinander zu Felde ziehen. Für das Individuum bleibt als einzige Lösung, sich auf die richtige Seite der beiden Fronten zu bringen. Während Bardamu die Natur hasst, scheint er die Zivilisation noch weniger leiden zu können, denn den Eingeborenen ist z. B. »nur mit der Peitsche beizukommen«. Sie, so Célines Menschenverächter, hätten noch Stolz, während die Weißen durch Bildung bereits zum Gehorsam erzogen seien – eine Ausdeutung, die den europäischen Kolonialgedanken, der sich in der Pflicht zur ›Zivilisierung der Wilden‹ sieht, aufs Pessimistischste und Konsequenteste zu Ende denkt.

Céline, bürgerlich eigentlich Louis-Ferdinand Destouches, hatte bereits als Seuchenmediziner Karriere gemacht, als er mit »Reise ans Ende der Nacht« 1932 schlagartig berühmt wurde. Besonders in der Linken fand Célines Roman großen Zuspruch; in dem er größtenteils eine einfache, nämlich die Pariser Gossensprache nutzte, gab er dem Empfinden des (auch im Roman im Mittelpunkt stehenden) »Kleinen Mannes« der Unterschicht eine Stimme. Während die Reise noch als schonungslose und entlarvende Sozialkritik gelesen werden konnte, waren das 1936 erschienene Nachfolgewerk Tod auf Kredit und der im Folgejahr erscheinende Text Bagatelles pour une massacre (in Deutschland erschienen als Die Judenverschwörung in Frankreich) in wahllose Misanthropie und offenen Antisemitismus umgeschlagen. Auch politisch sympathisierte Céline offen mit dem Faschismus und war in das Vichy-Regime des Marschalls Petain verstrickt, weswegen er nach dem Krieg weitgehend aus dem intellektuellen Leben Frankreichs ausgeschlossen war. Er lebte bis zu seinem Tod 1961 in einem kleinen Ort in der Nähe von Paris und arbeitete als praktischer Arzt, vielleicht auch, weil er sich zeitlebens nie von seinen menschenverachtenden Ausfällen der Zwischen- und Vorkriegszeit distanzierte, sondern sich eher noch als seniler Verrückter gerierte. Wie weit der Hass bei Céline wirklich ging, wurde erst nach kurz nach seinem Tod durch die Veröffentlichung seiner Tagebuchaufzeichnungen klar. 

Bei aller Verstrickung seines Autors in die Untiefen des Faschismus, dessen menschenverachtende Rhetorik und Denkweise großes Leid ausgelöst hat, bleibt Reise ans Ende der Nacht ein herausragender Roman. Die Reise ist kein klassischer Weltkriegsroman, die Beschreibung des Krieges und seiner unmittelbaren Folgen nimmt nicht einmal ein Viertel des Buches ein. Zugleich aber ist er doch der entscheidende Fluchtpunkt, dessen Perspektivlinien Bardamu auf seiner Flucht vor dem Leiden und der Angst in der Gesellschaft entdeckt, selbst fern jeder Zivilisation. Es gibt kein Entrinnen, »so wie im Krieg. Nichts geschieht. Niemand kommt und hilft.«

Offen aber bleibt die Frage: Ist die Menschheit so verroht, so eigennützig, so bestialisch, die Zivilisation kein Ausweg aus dieser Verrohung, sondern lediglich ihre Instrumentalisierung? Das ist sicher nicht ausgemacht; Zweifellos aber war Célines Roman ein Skandal, weil er die Grundgewissheiten der demokratischen Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts radikal in Frage stellte und sowohl den Kapitalismus als auch das Kolonialsystem und den Krieg in all seinen zweifelhaften Abgründen anprangerte. Céline entlarvt in diesem Roman alle humanen Bemühungen um Ordnung und Gerechtigkeit als »Mischief«, also als Unsinn, dem niemand wirklich entkommen kann – es bleibt nur diese eine grausame und zutiefst ungerechte Welt, in der man sich einrichten muss. Die Fragen, die der Roman damit aufwirft, haben auch heute nicht an Aktualität verloren. Sie sind eine Quelle der tiefen Melancholie geblieben, die Bardamu einmal so zynisch zusammenfasst:

»Ich war ja übrigens selber boshaft, alle Menschen sind es… Alles Übrige habe ich auf dem Wege eingebüßt, ja die Miene selbst, die man für Sterbende aufsetzt, auch die hatte ich verloren. Mein Gefühl ist einem Haus vergleichbar, in das man nur in den Ferien eintritt. Es ist kaum bewohnbar.«

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