Aktuelle Mitteilungen

Stillstand ist der Tod: In Thomas Lehrs Roman "42" steht die Zeit still – und quält den Protagonisten

Veröffentlicht am 8. Februar 2015

von Christian Wobig

Was würde man tun, wenn man der Einzige wäre, der im Dornröschenschloss wachte, zwischen all den eingeschlafenen, erstarrten Figuren, die die stillstehende Zeit mitten in der Bewegung hat innehalten lassen? Würde man nicht denken, sie alle stünden da und harrten der Sekunde, in der nach hundertjährigem Schlaf alles wieder, wie von einer Sekunde auf die andere, erwachte, seine Bewegung fortsetzte? Hoffte man dies nicht gar? Was aber, wenn man bereits fünf Jahre in der stillstehenden Zeit umherwanderte, in dem Bewusstsein, dass es nur wenige nicht erstarrte Menschen gibt, Chronifizierte, wie man selbst? Dürfte man dann zugreifen und sich nehmen, was man wollte? Und was würde passieren, würde die Welt sich doch plötzlich eines Tages weiterdrehen?

Vor diese Fragen sieht sich in Thomas Lehrs Roman »42« eine Gruppe von Besuchern des CERN im schweizerischen Genf gestellt, als sie nach einer Besichtigung des unterirdischen DELPHI-Detektors wieder an die Oberfläche zurückkehrt: Flugzeuge stehen wie festgeklebt am Himmel, Vögel verharren regungslos in der Luft, Menschen stehen wie zu Salzsäulen erstarrt in der letzten Pose, die sie eingenommen haben, bevor es 12:47:42 Uhr wurde. Die »Chronifizierten«, wie die Überlebenden sich nennen, umgibt eine Blase, innerhalb derer die Zeit noch normal vergeht. Dadurch können sie im erstarrten Wasser schwimmen in einer zufällig gegen Mittag einlaufen gelassenen Badewanne baden, oder das immer gerade auf den Tisch gestellte und heiße Mittagessen erstarrter Menschen essen. Erstarrte, die in den Einflussbereich der »Chronosphäre« eines Chronifizierten gelangen, werden aus ihrem Zustand befreit, kommen allerdings nicht zu Bewusstsein und brechen mit einem Stöhnen in sich zusammen.

Wie alle Chronifizierten zieht sich Adrian Haffner, Wissenschaftsjournalist und Hauptfigur des Romans, in die Einsamkeit zwischen den starren Menschen zurück und wandert auf der Suche nach seiner Frau wochenlang durch Europa. Auf seiner Wanderschaft durch die gefrorene Welt durchläuft er die fünf Phasen des Niedergangs, der alle Chronifizierten erfasst: Schock, Orientierung, Missbrauch, Depression, Fanatismus. In Berlin stößt er schließlich auf einen Hinweis, dass seine Frau nicht allein in den Urlaub an die Ostseeküste gefahren ist, sondern ihn vielmehr schon länger betrügt. Den Nebenbuhler, den er schließlich in Florenz immer gerade in flagranti mit seiner Frau erwischt, drapiert er so auf dem Fensterbrett des Hotelzimmers, dass er, so die Welt irgendwann dornröschengleich aufwachen sollte, rückwärts hinabstürzt auf den Asphalt der Straße. Später, als die Zeit nach fünf Jahren für kurze drei Sekunden weiterläuft, trifft Adrian die anderen Chronifizierten wieder, um herauszufinden, ob das am CERN zurückgebliebene Forscherteam es tatsächlich geschafft hat, eine Lösung für das Problem zu finden. Doch auf dem Rückweg begegnet er witzigen und auch bizarren Menschenskulpturen aus den Körpern der erstarrten, die einige der Chronifizierten in den Jahren der Unzeit geschaffen haben, er stößt auf Mord und Missgunst unter den Überlebenden.

In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis ist die Zahl 42 die Antwort auf »die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest«; und auch, wenn Lehr, wie der Titel wohl so manchem Anhalter-Enthusiasten zunächst suggeriert, sich nicht direkt darauf bezieht, ist die 42 auch hier eine überraschende wie schreckliche Antwort. Die meisten Leser wird das Buch wohl fasziniert wie ratlos zurücklassen, weil zum Ende mehr und mehr physikalische Theoreme in die teilweise expressionistisch anmutende Beschreibung einfließen. Vielleicht also ist ein entsprechend geschulter Physiker der einzig wahre Leser von 42.

Viel wichtiger erscheint aber die verzweifelte Reise Haffners, der voller Sehnsucht durch die erstarrte, zugleich voll von Menschen und doch gottverlassene Welt zieht; Sehnsucht nach seiner Frau, Sehnsucht nach Anna, einer chronifizierten Kollegin, die mit Boris zusammen ist und sich doch zu Haffner hingezogen fühlt, Sehnsucht nach der Rückkehr einer bewegten Welt. Die Sprache, in der all das stattfindet, spiegelt die Schwere, Gewundenheit und tiefe Melancholie Haffners wider; und obgleich sie das komplizierte physikalische Geschehen teilweise unverständlich erscheinen lässt, ist auf der künstlerischen Seite umso meisterhafter, was Lehr aus deren Konsequenzen macht: In einer vierseitigen Sequenz beschreibt er, wie der während des dreisekündigen »Rucks« auf der Straße zerschellte Nebenbuhler in Folge einer Zeitumkehr unter umgekehrten Vorzeichen vom Tod zurück ins Leben und von der Straße zurück in das Fenster seines Hotelzimmers fliegt.

Für den Leser sind das Buch und seine hochkomplexe und kunstvoll gedrechselte Sprache manchmal ebenso schwer zu durchdringen wie für seinen Helden Haffner die eingeschlafene Welt, die sich nicht mehr dreht und in deren Logik sich beide Ebenen, Leser wie Figur, gleichermaßen verstricken – und gerade, weil die Sprache so perfekt die verzweifelte Situation des »Chronifizierten« wiedergibt, bedeutet 42 für den Leser nicht dasselbe, wie für die Romanfiguren: den Tod.

Thomas Lehr: 42. Roman. Hanser, 2013, 21,90 €. E-Buch 16,99 €.

Hate Radio

Veröffentlicht am 6. Februar 2015

Die Rolle eines Mediums als Täterplattform und Anheizer des Völkermordes in Ruanda

von Christian Wobig

»Die authentischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das äußerste Grauen nachzittert«, schrieb Adorno einst – eine Position, die Viele 70 Jahre nach dem Holocaust für historisch halten mögen; doch sie ist eine der zentralen philosophischen Aussagen des »Jahrhunderts der Genozide«, in dem jenes Grauen der politisch organisierten Vernichtung menschlichen Lebens nach 1945 nicht beendet, sondern regelmäßig aktualisiert worden ist.
Kann aber ein Radiomoderator den Tod von Menschen verschulden, eine kleine, private Radiostation in einem kleinen Land irgendwo in Ostafrika eine zentrale Rolle bei der Ermordung von fast einer Million Menschen spielen? Seit 1994 wissen wir, dass es geht; der Ort: Ruanda. Der Tatort: Eine kleine, junge Radiostation im Herzen Kigalis, Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM), seit 1993 auf Sendung. In dem kleinen, ostafrikanischen Land, dessen Bevölkerung zu großen Teilen aus Analphabeten bestand und in dem sich kaum jemand Fernseher leisten konnte, kam dem Radio die Rolle des Leitmediums zu. RTLM traf mit seiner unkonventionellen Art den Nerv der Zeit. Dabei waren ein gemischt westliches wie afrikanisches Musikprogramm und eine landesuntypisch sehr lockere Sprache von Sendestart an mit politischer Hass-Propaganda gegen die Tutsi-Minderheit kombiniert worden – eine Vorgehensweise, die aus der Rückschau wie eine Werbekampagne zur Vorbereitung des Völkermords anmutet. In den Monaten vor dem Beginn des hunderttägigen Mordens am 6. April bereits eng mit der »Hutu-Power«-Bewegung und den extremistischen Kräften innerhalb der Hutu-Regierung verstrickt, sendete RTLM den landesweiten Startschuss für das Morden (»fällt die hohen Bäume«), schürte den Hass, las Todeslisten vor, auf denen nicht nur Tutsi, sondern auch gemäßigte Hutu standen, stachelte die Mörder an und wies ihnen den Weg zu weiteren Opfern.

Bis heute gilt der Genozid in Ruanda als herausragendes Beispiel dafür, welche wichtige Rolle moderne Medien bei der Entfesselung und Kontrolle kollektiver Gewalt spielen; in seinem gleichnamigen Theaterstück zeigt der Schweizer Theaterregisseur Milo Rau, eingerahmt von Zeugenaussagen, eine typische Sendestunde, wie sie das »Hate Radio« RTLM während des Mordens ausgestrahlt haben könnte. Zum 2011 uraufgeführten Stück ist – pünktlich zum 20-jährigen Gedenktag des Genozids – Anfang 2014 im Verbrecher-Verlag ein Begleitband mit Interviews, Dokumenten und Begleitinformationen erschienen, der Einblicke in den Hintergrund des Theaterstücks liefert. Neben Auszügen aus den Interviews, die Rau im Laufe seiner Recherchearbeit mit Zeitzeugen und Tätern wie der RTLM-Moderatorin Valérie Bemeriki führte, und aus Vernehmungsprotokollen der Gerichtsverfahren gegen die Hassmedien Ruandas, lassen sich auch Untersuchungen über die Sprache des Genozides in Ruanda finden, in der das Morden als »Arbeit«, die Mordinstrumente als »Werkzeug« und die Opfer als »Inyenzi«, »Kakerlaken« bezeichnet wurden. In einem Aufsatz verdeutlicht der renommierte Genozidforscher Frank Chalk die Rolle der Medien, die sich aus den Erfahrungen mit RTLM und anderen Hassmedien Ruandas ergibt. Moderne Medien, so Chalk, spielten eine zentrale Rolle für die Verbreitung von Hassideologien und würden durch die Täter genutzt, um die Angst der eigenen Zielgruppe vor einer Bedrohung durch die zukünftigen Opfer zu schüren. Gleichzeitig böten sie aber auch die Chance, Informationen zu verbreiten, die einen Ausbruch von Gewalt verhinderten. Die Erfahrung aus Ruanda müsse, so Chalk, eine konsequente Ausschaltung von »Hate-Media«, eine Gegenkampagne mit objektiven Informationen und eine entschiedene Strafverfolgung von Tätern nach sich ziehen.

Der gleichnamige Band zu Milo Raus Theaterstück Hate-Radio, der auch ein deutsches Transkript des Stückes enthält, ist eine sinnvolle Ergänzung, da er vertieft, was bereits auf der Bühne erreicht wird: Die Bedeutung von Hasspropaganda und die gesellschaftliche Dimension der Entfesselung von kollektiver Gewalt zu veranschaulichen, die nicht allein ein Phänomen moderner Ideologien ist, sondern ein mit der Moderne an sich einhergehendes, das sich aus vielen, teilweise widersprüchlichen gesellschaftlichen Entwicklungen speist. Dies ist eine wichtige Erkenntnis, sie macht deutlich, dass jeder Völkermord, ob an Juden, Armeniern, Tutsi oder den vielen anderen Opfern, zwar an sich einzigartig ist, keiner von ihnen jedoch einen Bruch mit der Entwicklung der modernen »Zivilisation« bedeutet, sondern mit ihr einhergeht: »Ich glaube nicht an das Ende der Genozide. Ich glaube nicht, dass wir zum letzten Mal diese schlimmste aller Grausamkeiten erlebt haben. Wenn es einen Genozid gegeben hat, dann wird es noch viele geben.«

Milo Rau: Hate Radio. Verbrecher Verlag, 2014, 18,00 €.

90.0 MHz – Das hörst du! Das Bochumer Campusradio CT das radio und die fusznote kooperieren seit dem Sommersemester 2014

Veröffentlicht am 6. Februar 2015

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von Anika Lehnert

Sie sitzen in den Untiefen der Ruhr-Universität Bochum. In einem Abschnitt, den kaum ein Germanistik-Studierender je zu Gesicht bekommen hat, oder von dem er auch nur weiß, dass jenseits der Mittelachse, in der die UB beheimatet ist, noch Leben existiert. Im Gebäude ICN liegen die Räume von CT das radio, dem studentisch geführten Radiosender für die Ruhr-Universität und die Hochschule Bochum, die Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe sowie die Technische Fachhochschule Georg Agricola. 24 Stunden non-stop sendet das älteste Campusradio in NRW für die Bochumer Studierenden und versorgt die Hörer nicht nur mit Musik, sondern auch mit allem Wissenswerten aus der Welt, der Umgebung und nicht zuletzt mit Neuigkeiten vom Campus. Wer täglich auf der Frequenz 90.0 MHz oder schlicht per Live-Stream im Internet zuschaltet, der ist mit der Sparte Fresschen sogar darüber informiert, was in der Mensa auf den Tisch kommt. In mehreren technisch ausgerüsteten Räumen sitzen jeden Tag die »Gesichter des Radios« aus allen Disziplinen der Universität beisammen und erarbeiten das Programm für den jeweiligen Tag. »Wichtig ist uns der studentische Bezug in den Beiträgen«, sagt Philipp Kressmann, Musikchef und Nachrichtenredakteur bei CT, »Natürlich berichten wir auch über wichtige Geschehnisse in der Welt, aber Neuigkeiten auf dem Campus sind für uns genauso wichtig – dafür sind wir ein Campusradio.«

Dass es gar nicht so einfach ist, einen Beitrag für das Radio aufzubereiten, hat die Redaktion der fusznote in mehreren kleinen Workshops persönlich erfahren. Unter der Anleitung von Philipp Kressmann und Ann-Kristin Pott, Programmchefin und Moderatorin, lernen wir unser germanistisches Wissen um den Aufbau eines »runden Textes« über den Haufen zu werfen und wieder bei Null anzufangen. Vergessen sollte man kunstvoll kreierte Haupt- und Nebensatz-Konstruktionen und den exzessiven Einsatz komplizierter Fachbegriffe. Reduktion ist das Stichwort! Denn das Ohr kann bei Weitem nicht so schnell Informationen erfassen wie das Auge beim Lesen eines Textes. »Bei einem Radio-Beitrag ist darauf zu achten«, so Ann-Kristin, »den Hörer direkt abzuholen.« Das heißt so viel wie: Der Hörer hört den Beitrag nur einmal und muss Schritt für Schritt an das Thema herangeführt werden, sonst schaltet er ab. »Besonders gut eignen sich auch bildhafte Formulierungen«, ergänzt Philipp noch, »denn so wird das Gehörte gleich viel lebendiger und leichter vorstellbar.«

CT das radio, dessen Name, so eine der Gründungslegenden, abgeleitet ist vom lateinischen »cum tempore«, das den Studierenden besser bekannt ist als das »akademische Viertel«, sendet seit 1997 aus Bochum und versteht sich selbst als Ausbildungs-Radio. Alle Studierenden sämtlicher Sparten haben die Möglichkeit sich dort zu engagieren. Der Einstieg erfolgt über ein halbjähriges Praktikum, das auch für den Optionalbereich angerechnet werden kann. Ebenso betreuen die Redakteure in dem großen Redaktionsraum mit unzähligen Rechnern Schüler, die im Rahmen des Praktikums Radioluft schnuppern wollen.

CT hat eine technische Reichweite von knapp 500 000 Menschen und bietet mit seinem größtenteils indielastigen Musikprogramm eine angenehme Alternative zu den großen Sendern. Doch kann das Radio in Hinblick auf das richtige Gespür für neue Trends den bekannteren Funkern durchaus das Wasser reichen. »Lange bevor aktuelle Interpreten wie Lykke Li mit ihrem Erfolgshit I follow Rivers oder Milky Chance mit Stolen Dance Standard wurden, hatte CT sie schon einige Monate im Programm«, erzählt Philipp, der verantwortlich für die Musikauswahl ist. Um zu vermeiden, dass Bands oder Interpreten schnell »totgespielt« werden, gibt es bei CT die Regel, dass ein Titel nicht zu oft am Tag gespielt werden darf. Mit den Sparten »Hörtest der Woche« und »Silberling der Woche«, die in Kooperation mit eldoradio* zustande kommen, wird darüber hinaus wöchentlich eine Neuerscheinung im Studio besprochen, die auf der Homepage auch in Rezensionsform nachzulesen ist. Doch nicht nur mit seinen vielseitigen Musiksendungen, die von den Campus-Charts über House und Reggae bis Metal reichen und zwischen 20 und 22 Uhr täglich variieren, bietet CT den Hörern ein abwechslungsreiches Repertoire. Auch kulturelle Tipps und Kritiken von Theateraufführungen oder Konzerten kommen im Programm nicht zu kurz. Insbesondere der Mittwochabend von 21 bis 22 Uhr bietet hierbei mit der Sendung »Kultimativ« allen Kulturfreunden Inspiration für die nächsten Abende.

Seit dem Sommersemester 2014 verbindet fusznote und CT das radio eine Kooperation. In regelmäßigen Abständen präsentieren die Redaktionsmitglieder der fusznote Neuerscheinungen aus dem Buchmarkt und liefern Anregungen für die nächste, nicht nur studentische Lektüre. Auch anstehende Lesungen oder Literaturfestivals werden vorgestellt, sodass Leseratten und vielleicht auch mancher vermeintliche Kulturmuffel etwas für seinen Geschmack findet.

Hörbuch des Monats Dezember

Veröffentlicht am 19. Dezember 2014

Das Nichts hat es bis unter den Weihnachtsbaum geschafft?

Der Weihnachtstipp: Die unendliche Geschichte ist als Hörspiel bei Hörbuch Hamburg erschienen

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Pünktlich zu Weihnachten entführt uns Silberfisch, das Kinder- und Jugendprogramm des Hörbuch-Verlags Hörbuch Hamburg, mit einem ganz besonderen Hörspiel in das Reich der Phantasie und lässt damit Erinnerungen an Buchlektüren zu Kindheitstagen wieder erblühen.

Anlässlich des 35-jährigen Erscheinens von Michael Endes berühmter Unendlicher Geschichte ist in Zusammenarbeit mit dem WDR und den Erben Michael Endes ein aufwendig produziertes Hörspiel erschienen. Über 50 verschiedene Sprecher sind darin in über 70 Rollen beteiligt und erzeugen ein höchst atmosphärisches Hörerlebnis, das nicht nur junge Hörer begeistern dürfte.

Die Handlung kennen die meisten Hörer bereits von dem eigenen Leseerlebnis oder der mehr schlecht als recht gelungenen Verfilmung von Wolfgang Petersen aus dem Jahr 1984. Während der Film in vielen Details leider über alle Maßen enttäuschte, orientiert sich das Hörspiel am Original von Michael Ende. Darin hat der Glücksdrache Fuchur wieder glitzernde Schuppen statt weißes Fell, Atréju, der Held der Geschichte, blau-schwarzes Haar und grüne Haut und auch die gesamten Episoden mit Bastian in Phantásien sind aufgenommen worden. Bei wem das Buch bereits in Vergessenheit geraten ist, dem sei im Folgenden noch einmal kurz in Erinnerung gerufen, worum es genau geht:

Bastian Balthasar Bux, ein schüchterner Junge, der auf der Flucht vor den Schikanen seiner Mitschüler in einem Antiquariat Schutz sucht, entdeckt dort ein außergewöhnliches Buch: Die unendliche Geschichte. Er zieht sich auf den Dachboden seiner Schule zurück und versinkt in die Lektüre des Buches. Bastian taucht ein in das Reich der Phantasie und erfährt, dass die Kindliche Kaiserin, Herrscherin über Phantásien, sterbenskrank ist und schnellstmöglich ein Heilmittel für sie gefunden werden muss. Andernfalls würde das Land für immer durch das alles vernichtende Nichts zerstört werden. Auserkoren für die abenteuerliche Suche nach einer Heilung ist Atréju, ein junger Krieger, der alsbald erfährt, dass nur ein neuer Name für die Kaiserin Phantásien zu retten vermag. Bastian Balthasar Bux kann die Kaiserin retten – aber wie?

Alle Geschöpfe Phantásiens existierten nur durch das Dasein der Kindlichen Kaiserin. Ohne sie konnte nichts bestehen und so wurde sie von allen Geschöpfen dieses Reiches geschätzt und alle machten sich Sorgen um ihr Leben. Denn ihr Tod wäre der Untergang Phantásiens und gleichzeitig das Ende für sie alle.

Michael Endes Roman ist vor allem für seine philosophische Tiefgründigkeit bekannt, er ist ein Appell an die Bewahrung der kindlichen Phantasie auch im Erwachsenen-Alter. So verwundert es nicht, dass es gerade die „Mächtigen“ dieser Welt sind, die die Zerstörung Phantásiens beauftragen:

»Mächtige aus der Welt der Menschen, denen ich diene, haben die Vernichtung Phantásiens beschlossen, aber ihr Plan ist in Gefahr. Ihnen wurde berichtet, dass die Kindliche Kaiserin einen Boten ausgesandt hat, der ein Heilmittel für sie finden soll und damit auch für Phantasien.«

In der Unendlichen Geschichte lehrt uns Michael Ende, dass die Phantasie es ist, die uns vor der Traurigkeit in der Welt schützen kann. Wenn wir sie vergessen, bleibt nur das Nichts, das uns Stück für Stück die Freude am Leben raubt, wie es Atréju in den Sümpfen der Traurigkeit am eigenen Leib erfahren muss:

»So hast du noch nie geredet! Bist du krank?« – »Vielleicht … mit jedem Schritt, den wir weiter gehen, wird die Traurigkeit in meinem Herzen größer, […] geh alleine weiter, ich kann diese Traurigkeit nicht mehr aushalten.«

Das Hörspiel zur Unendlichen Geschichte, in der Bearbeitung von Ulla Illerhaus, erzeugt auf über 278 Minuten dank wandelbarer Sprecher und atmosphärischer Musik ein spannendes Hörvergnügen für Jung und Alt. Besonders hervorzuheben sind an dieser Stelle neben einer Vielzahl toller Stimmen Anna Thalbach und Hans Kremer als Erzähler und Laura Maire in der Doppelrolle als Kindliche Kaiserin und zauberhaftes Irrlicht. Obwohl die Hörspielfassung von Silberfisch und dem WDR 90 Minuten länger ist als die vorherige Bearbeitung vom Bayrischen Rundfunk aus dem Jahr 1981, wünscht man sich doch bei den letzten Klängen, der Titel des Romans möge Wirklichkeit werden und das Hörerlebnis andauern. Vielleicht wird Phantasie tatsächlich einmal Realität und sei es nur, in dem man bei CD 1 erneut beginnt.

Eine Hörprobe erhalten Sie hier.

Mehr Lieblingsbücher zu Weihnachten

Veröffentlicht am 14. Dezember 2014

Die letzte Woche vor dem Fest steht an, wer jetzt noch ohne Geschenke ist, ruht lang nicht mehr entspannt auf seinem Sofa. Zwei lesenswerte Schätzchen von 2014 besprechen wir daher last minute: „Dat Leben is kein Trallafitti“ von Otto Redenkämper, ein echtes Gutelaune-Buch – und „Länger als sonst ist nicht für immer“, ein einfühlsamer Roman von Pia Ziefle.

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Otto Redenkämper: Dat Leben is kein Trallafitti

Wer kennt sie nicht, die Gardinen, die sich bewegen, nachdem man aus dem Auto gestiegen ist oder zur Mülltonne geht. Wer kennt nicht die Rentner, die alles im Blick haben, ob man will oder nicht. Der „Fenster-Rentner“ Otto erklärt uns die Welt, seine Kiosk-Welt in Gelsenkirchen und seine Inspektor-Buerlombo-Einsätze, bei denen er auf alles vorbereitet sein muss. So berichtet er in einzelnen Geschichten und auch von Schrecken am Morgen, wenn seine Frau Wilma die Lieblingsunterhemden nicht bereitgelegt hat oder die Schwimmbrille ins Wasser fällt. Das Leben eines Fenster-Rentners ist harte Arbeit, an dem Otto Redenkämper den Leser in seiner charmanten Art teilhaben lässt. Ruhrdeutsch ist die beherrschende Sprache, es finden sich Worte wie Kinners, Pilspalette oder Kinderplörre. „Trallafitti“ ist das vorherrschende Prinzip. So schreibt Otto: „Da war ja richtig Trallafitti bei euch. Du kennst ja das Sprichwort „Keine Power ohne Aua.“ Fenster-Rentner wissen über alles Bescheid und kontrollieren auch mal eine Biotonne, aber Ottos charmanter Art verzeiht man die Spionage und erhält einen amüsanten Eindruck vom Ruhrpottleben. „Glück auf!“ an alle Fenster-Rentner!

Kim Uridat

Otto Redenkämper: Dat Leben is kein Trallafitti. Der Fenster-Rentner erklärt die Welt. 
Fischer, 2014, 8,99 €. E-Buch 8,99 €.

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Pia Ziefle: Länger als sonst ist nicht für immer

Manchmal ist die Flucht alles, was noch bleibt, um sich vor dem Ersticken zu retten. Bleibt ein Kind dabei zurück, entwirft die Literatur gern Bilder von Schuld und Trauma, denn wer sein Kind den Wölfen überlässt, der kann kein Guter sein. Falsch, zeigt der zweite Roman von Pia Ziefle, und verspricht es schon im Titel. Länger als sonst ist nicht für immer handelt von einer Reihe elterlicher Fluchten. Fido mit dem vom serbischen Großvater verliehenen Namen, Ziefles liebenswerteste Figur, wird seine Mutter, die ihn als Baby weggab und sich ein wenig versteckt, besuchen. Ira, deren Mutter nicht in die Ferne, sondern ins Innere geflohen ist und sie zum Sündenbock für die Misere machte, wartet mit Job und Kind auf bessere Zeiten. Lew, den die Eltern beim Ausreiseversuch aus der DDR zurückgelassen haben, sucht seinen Vater am anderen Ende der Welt. In Indien wird er ihn finden und dort auch die Kraft schöpfen, von seiner eigenen Flucht zurückzukehren. Wohin, wird eine Überraschung sein. Ziefles Talent, auf Bösewichte zu verzichten, und denen Raum zu geben, die ihr Leben anpacken, überzeugte schon in ihrem Erstling Suna. Ihr neuer Roman entwickelt diese Haltung weiter und könnte man an Schriftsteller Bestellungen aufgeben, gälte eine sicher dem wilden Fido, der einen eigenen Roman bekommen sollte.

Britta Peters

Pia Ziefle: Länger als sonst ist nicht für immer. Arche Literatur Verlag, 2014, 19,99 €.

Lieblingsbücher zu Weihnachten

Veröffentlicht am 9. Dezember 2014

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Zum Jahresende lassen wir unsere Leser natürlich auch 2014 nicht im Stich und empfehlen eine Reihe von Büchern, die als Geschenk für andere oder für sich selbst geeignet sind. Das fusznote-Weihnachtsspecial enthält nicht immer neu erschienene, aber dafür garantiert Lieblingsbücher.

Dieses Jahr mit an Bord: Geheimnisvolles aus den Archiven, Wolfgang Herrndorfs letzter Text und die brandneue Hörspielinszenierung von Michael Endes Unendlicher Geschichte! Viel Spaß beim Lesen!

Download: fusznote-Weihnachtsspecial 2014 (PDF)

Zettelkästen: Lokulamente des Geistes

Veröffentlicht am 9. November 2014

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Gerade in den Momenten, wo einstige Kulturtechniken aus der lebendigen Praxis in das Museumskabinett der Geschichte übergehen, wird eine Zeit ihrer besonders gewahr.

von Ali Zein

Das gilt für den Brief, zumal den handschriftlichen, das gilt neuerdings für das Buch und das gilt eben auch für den Zettelkasten, umso mehr, als im Zettelkasten gleich mehrere schwindende und verschwundenen Kulturtechniken zusammenlaufen: Papier, Tinte, diverse Schreibschriften, Füller, Schreibmaschinentype oder Polaroid. Anders ist das immer stärker aufkommende öffentliche und wissenschaftliche Interesse nicht vollständig zu erklären und anders wohl auch nicht die Ausstellung „Zettelkästen. Maschinen der Phantasie“, die im Museum der Moderne des Deutschen Literaturarchivs Marbach vom 04. März bis zum 15. September 2013 zu sehen war. In den Frühstadien medienhistorischer Abwechslungsphasen zeigt sich wie erbarmungslos unnostalgisch und rasant der medientechnologische Fortschritt mit veralterten Kulturtechniken umging und umgeht – und es ist gut, dass dies so geschieht. So schildert F. C. Delius die Übertragung seiner Stilblütensammlung in die viel flexiblere elektronische Form mit copy-and-paste-Funktion, ohne die er sein Buch Konservativ in 30 Tagen nie geschrieben hätte, als Befreiung gegenüber den Zwängen der unveränderlich festen DIN A6-Form der Karteikarten und Zettelkästen.

In den Spätstadien aber, wenn den Dingen von einstmals für immer die Nacht dämmert, wird auch ersichtlich, wie sehr die elegische Melancholie ihr Recht einfordert, deren Pochen scheinbar mit jedem Grad der fortschreitenden Vergilbung und damit einhergehenden Auratisierung stärker wird. Dies zeigt der wie immer qualitativ hochwertige Marbacher Ausstellungskatalog in seinem Bildteil, wo gilbe, teilweise abgegriffene, in den verschiedensten Tinten beschriebene oder getippte Zettel, Fotos, Zeitungssauschnitte und so fort abgebildet sind und in ihrer je unterschiedlichen Gebrauchsform wie Fingerabdrücke ihrer Benutzer wirken.

Format: »Zettelkasten-Buch«

Die Kuratoren haben sich beim Katalog eine ausgefallene, mediale Mischform entwickelt, die in der Form des Buches die Funktion des Zettelkastens analog imitiert: Das Buch ist dazu in drei eigenständige Bereiche eingeteilt – in einen Aufsatz-, Bild- und Anmerkungsteil – und mit alphabetisch geordneten Stichworten untergliedert, denen jeweils ein Text-, ein Bild- und ein Anmerkungsteil zugeordnet sind und in den jeweiligen Texten wiederum sind jene Stichworte mit Verweispfeilen verschlagwortet. Das spiegelt einerseits die innere Form eines Zettelkastens. Seine äußere Form wird andererseits von einem nicht fest anmontierten Bucheinband nachgeahmt, der so an die Holz- und Pappdeckel erinnert. Damit ist der materiellen Dimension des Zettelkastens auf schöne und reflektierte Weise Genugtuung getan.

Im Katalog finden sich Textbeiträge einerseits von Wissenschaftlern über die Geschichte und Technologie des Zettelkastens, Jean Pauls Exzerpthefte, die Bilderarchive W.G. Sebalds oder Reinhart Kosellecks, über Friedrich Kittlers unrealisiertes Buchprojekt über die Farben des Mondes in der Lyrik und seinen Umstieg vom Zettelkasten auf den PC, über den legendären Zettelkasten Niklas Luhmanns (mit einer Bastelanleitung) und Hans Blumenbergs Methoden des Selbstgesprächs via Zettelkasten; andererseits geben literarische Schriftsteller Auskunft über ihre Zettelkastenwerkstatt und produktiven Zweckentfremdungen.

Stichwort: Multidimensionalität

Dabei wird konsequenterweise nicht in belletristische und wissenschaftliche Autoren eingeteilt, weil alle sich des Zettelkastens und seiner denkbar einfachen Methode und Trägermedien bedienen: Es werden x-beliebige Inhalte auf Zettel geschrieben, wahlweise per Hand- oder Maschineschrift, und im Kasten nach Schlagworten oder anderen Ordnungskriterien einsortiert. Obwohl sich dabei alle dieser gleichen Dinge bedienen, gibt es doch so viele Zettelkästen wie es Zettelkastennutzer gibt – und genauso unterschiedlich sind auch die Gebrauchsformen: Zettelkästen dienen als Zweitgedächtnisse, als Kommunikationspartner (Luhmann, Blumenberg), als Zufallsgeneratoren der eigenen Kreativität (Jean Paul, Luhmann, Pastior), als offene Materialsammlungen für mögliche Buchprojekte (Fontane, Kittler, Schmidt, Kempowski), als Bilderarchive (Koselleck, Sebald) oder als Sammelsurium für alles und nichts (Alissa Walser). Damit ist eine weitere Funktion benannt, nämlich die funktionale, an der sich zeigt, dass Zettelkästen vor allem auch immer Verwaltungsapparate eines Denkens sind.

Indices eines Denkerlebens

Daneben entfaltet der Katalog weitere Dimensionen des Zettelkastens, etwa eine existentielle. Denn dadurch dass alle Gebrauchsformen individuelle sind, bilden Zettelkästen, wenn sie fortwährend betrieben werden, Materialsammlungen eines Dichter- oder Forscherlebens. Einerseits führt dies zum sentimentalen Wunsch nach Unvergänglichkeit ausgerechnet beim Spezialisten für Geistesaustreibungen Friedrich Kittler, der in einem Interview äußerte, er habe das „tröstliche Gefühl, dass jemand, der wissen will, wie meine ungeschriebenen Bücher aussehen könnten, das ganz gut rekonstruieren könnte, falls ich plötzlich umfalle“ (50); andererseits bildet der Zettelkasten so Biographien des Denk- und Arbeitsstils seiner Nutzer aus, die deren Entwicklung und Interessen aber auch Irrwege und blinden Motive abbilden.

Aus der Denkerbiographie heraus stellt sich auch die Frage nach dem Format des Wissens, das durch Zettelkästen produziert wird, womit die epistemologische Dimension bezeichnet wäre. Walter Benjamin erklärte bereits 1928 in der Einbahnstraße das Medium Buch gegenüber dem Zettelkasten für überkommen, der die eigentliche Arbeits- und Denkstruktur der Wissenschaft liefere: „Und heute schon ist das Buch, wie die aktuelle wissenschaftliche Produktionsweise lehrt, eine veralterte Vermittlung zwischen zwei verschiedenen Kartotheksystemen. Denn alles Wesentliche findet sich im Zettelkasten des Forschers, der’s verfasste, und der Gelehrte, der darin studiert, assimiliert es seiner eigenen Kartothek“ (32). Es stellt sich also die Frage, ob nicht das Werke und Wissen der Wissenschaften und Literatur ‚zettelkasten-artig‘ strukturiert sind, weil sie ‚zettelkasten-artig‘ produziert und reproduziert werden. Zumindest wurde der Zettelkasten immer wieder zur Erklärung der Produktivität mancher Autoren wie Johann Jacob Moser im achtzehnten oder Niklas Luhmann im zwanzigsten Jahrhundert herangezogen.

Software: Zettelkasten

Das Besondere des Zettelkastens – und damit seine Jahrhunderte währende Erfolgsgeschichte in der Geschichte analoger Medien – lag dabei immer in seinem merkwürdigen Doppelwesen zwischen Stabilität und Labilität, Flexibilität und Starre und vor allem Ordnung und Unordnung. Gleichwohl sein Äußeres hart, unbeweglich und nicht gerade platzarm ist, ist sein Inneres hochgradig dynamisch, weil es nicht an die inkorporierten (losen) Materialien gebunden ist, deswegen aber auch hochgradig labil: Nichts gerät schneller in Unordnung als ein heruntergefallener Zettelkasten. Diese bewegliche Ordnung kann theoretisch alles zusammenbringen, was thematisch ursprünglich nicht zusammengehören muss. Diese Flexibilität und Anschlussfähigkeit machte ihn so beliebt und praktisch für die Bibliothekskataloge und die Buchführung, da man immer wieder Ergänzungen oder Löschung vornehmen konnte, ohne gleich das ganze Ordnungssystem zu ändern.

Niklas Luhmann trieb diese Kombinatorik von Ordnung und Unordnung auf die Spitze, indem er weitgehend auf eine systematische Ordnung verzichtete und stattdessen eine Stellordnung wählte, d. h. das jeder eingeordnete Zettel nicht mehr von seiner Stellung verrückt wurde, wenn er einmal eingestellt wurde. Neue Zettel wurden einfach zwischen zwei nebeneinander liegende eingesetzt. Mit den Jahren kamen auf diese Weise in einem Fall tausend neue Zettel zwischen zwei ehedem nebeneinander stehende. Somit schuf er erst die Vorbedingungen eines kreativen Zettelkastens, dessen Potential vor allem von der systematischen Integration des Zufalls und der syntagmatischen und paradigmatischen Vernetzungsfähigkeit der Zettel untereinander herrührt. Die Vernetzungsstruktur kann so ursprünglich weit entlegene Gedanken verbinden, weil jeder Zettel einmal über seinen Stehplatz und einmal über seine Querverweise von mehreren Zugangsorten angesteuert werden kann. Damit simulierte Luhmanns Zettelkastenapparat im Medium des Analogen bereits ab den frühen 1960er-Jahren eine Vorstufe des Hyperlinks oder der elektronischen Datenbank (vgl. 92).

Dabei geht das Potenzial der offenen Ordnung soweit, dass der Zettelkasten nicht immer ein Kasten sein muss: Jean Paul z. B. führte Exzerpthefte, für deren Verweisstruktur der Zettelkasten Pate steht (hier wird der Zettelkasten zur reinen Struktur) und Theodor Fontane legte Listen in Notizformat als Materialsammlungen für seine (noch unfinanzierten) Romanprojekte an, die er in Papierumschläge in seinem Schreibtisch verstaute. So ist der Zettelkasten (wie die digitalen Medien) eine universale Speicherform heterogener Medien und Schreibverfahren wie der Notizen, Listen, Schemata, Register, Reimboxen, usw., wovon man sich in der Marbacher Ausstellung und ihrem Katalog ein breit gefächertes Bild machen kann.

Index lesenwerter Texte: →Architektur, →Fäden, →Fingerkreise, →Fingerkunst, →Geist, →Hexerei, →Imperium, → Kommunikationspartner, →Liste, →Nachrichten, →Seelandschaft, →(Halb)Seiden, →Zykel.

Zettelkästen. Denkmaschinen der Phantasie. Hg. Heike Gfrereis. Ellen Strittmatter. Deutsche Schillergesellschaft, 2013.

Peter Handke: Die neuen Versuche

Veröffentlicht am 31. Oktober 2014

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Peter Handke setzt seine Essay-Reihe fort – auf dem stillen Örtchen und in den Pilzen

von Britta Peters

Wer sich dem umfangreichen Werk von 
Peter Handke nähern will, kann aus einer Fülle unterschiedlicher Textsorten wählen, die verlagsseitig in ein nur auf den ersten Blick homogenes Buchformat überführt wurden. Zu den empfehlenswerten Einstiegstexten gehört unter anderem die Reihe der als literarische Essays gestalteten Versuche, deren Form Handke, zuletzt für sein dramatisches Lebenswerk mit dem Internationalen Ibsen-Preis ausgezeichnet, nun wieder aufgenommen hat. In den frühen 90er-Jahren beschäftigte er sich mit jeweils einem Gegenstand, dem er sich via Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990) und dem Versuch über den geglückten Tag (1991) auf gezielten Umwegen näherte. 
Was lange wie eine nicht erklärte Trilogie aussah, erfährt jetzt in vorerst zwei neuen Bänden eine Fortsetzung und Weiterentwicklung. 2012 erschien der Versuch über den Stillen Ort und 2013 ein fast romanstarker Band mit dem Titel Versuch über den Pilznarren und dem scheinbar unschuldigen Zusatz Eine Geschichte für sich. 
Beide Bände sollen hier kurz vorgestellt werden, denn sie sind nicht nur exemplarisch für Handkes in den letzten Jahren produktive und beinahe andersheitere Werkphase, sondern auch beide sehr lesenswert.

Katzenwäsche auf dem Uniklo

Tröpfelnde Zipperlein, tote Spinnen an schmutzblinden Scheiben, Schlüpfriges, Glitschiges, unverdauliche Unappetitlichkeiten. – Das alles fürchtete so mancher versierte Fan und hat den Versuch über den Stillen Ort ausgelassen. Philip Roth hätte sie vielleicht erzählt, Handke verzichtet auf Bilder, die uns fliegenreich bis in den Schlaf verfolgen. Gleichwohl geht es um den Raum des ganz konkreten Örtchens, des Erzählers »nun fast schon lebenslanges Umkreisen und Einkreisen des Stillen Orts und der stillen Orte«. Dass der seinerzeit verquer und unbehaust das Haar auf der Toilette seiner Universität gewaschen hat und dabei ertappt wurde, stellt man sich gerne vor. Kühle Selbstironie durchzieht den Text, zu dessen Vorbereitung, so will es die selbstgeschriebene Legende, sogar ein Bildband über die schönsten Klosetts der Welt herangezogen wurde.

Im Grunde ist das Thema aber ernst. Es geht um die Flucht aus sozialer Erschöpfung, auf der ein enger Toilettenraum zur Freistatt wird, in der Entfaltung und Erholung möglich ist (Amos Oz hat seine ersten Schreibversuche auf dem Klo seines Kibbuzes gemacht, weil er dort einen Rückzugsraum fand, der die vermeintliche Unproduktivität verzieh). Es geht auch um den Tod.

Zentrale Szene ist die Reminiszenz an eine japanische Tempeltoilette, verquickt mit der Lektüre des ästhetizistischen Essays Lob des Schattens von Tanizaki Jun’ichirō, in dem die besondere Atmosphäre eben solcher Anlagen eine Rolle spielt. Nimmt man, von Handkes Ausführungen angeregt, Lob des Schattens zur Hand, liest man vom Arrangement mit dem Modernen, Grellen, Praktischen und von der Wehmut nach der Sanftheit der Dinge, die dieser Moderne vorausgegangen sind. Handkes Essay nimmt das auf und endet mit einer Naturbetrachtung, die, alle Endlichkeit harrt immer nah hinter den allzu menschlichen Bedürfnissen, auch einen Friedhof nicht auslässt. Aber noch führt den Erzähler der Weg von dort wieder fort, er findet auf dem stillen Örtchen wie auch am Ort der Letzten Dinge zu seiner Sprache und verlässt nach seinem Besuch beide, um weiterzuschreiben.

Gralssuche mit Doppelgänger

Handke, der sich selbst als »Ortsschriftsteller« bezeichnet hat, erforscht in seinem Werk Räume des Insularen und der Schwelle. Diese anderen Räume von Erkenntnis und Selbstwahrnehmung erreichen seine Erzählfiguren oft genug durch beharrliches Wandern von einem Revier ins andere. Auch der Versuch über den Pilznarren erzählt eine solche Reise, die des Protagonisten und seines merkwürdigen Freundes, eines exzentrischen Pilznarren. Der Erzähler berichtet uns von diesem Freund, der durch die Wälder zog, darüber sein Leben vernachlässigte und auf »heimliche Wege« geriet. Einmal auf dieser Spur in die andere Welt, ist der Pilznarr verloren. Er durchstreift neben oder nach einer Karriere als erfolgreicher Anwalt die Wälder seiner Heimat und sammelt Pilze, bis diese Obsession scheinbar zu einem vollständigen Verlust von Identität und Habitus gerät. Während wir dem Pilznarren und seinem Erzähler beim Durchwandern ihrer Leben zusehen, reichert sich die Geschichte mit Zitaten und Anspielungen auf die Texte des Schriftstellers Handke an, die wie Pilze aus einem Substrat sprießen, das die Textoberfläche bildet. Das erinnert ein wenig an Paul Austers Travels in the Scriptorium, auch wenn wir hier nicht ganz so offensichtlich Figuren begegnen, die vergangene Romane und Erzählungen bevölkerten.
Der Pilznarr entwandert dem urbanen Stadtraum in den Wald, auf Lichtungen und Hexenkreise. Ein einziges Mal macht er den ganz großen Fund, findet ein flüchtiges »Pilzland«, das erst durch langes Herumwandern aufgefunden werden kann. Die Rückkehr aus dieser Anderswelt gestaltet sich schwierig. Gleichwohl gelingt sie, Narr und Erzähler (wobei die beiden eigentlich untrennbar sind) treffen sich in einer frühwinterlichen Landschaft und sie machen sich (nach Pilzverirrung, Werkschau und Verschollengehen) auf zu einem langen Spaziergang »über die Dörfer«. Dort wird noch ein letztes Mal dem Narrentum gefrönt, um, hier ist sich der Text seines komischen Elements bewusst, letztlich auch ohne heiligen Lebensgral in einem Gasthaus namens »L’Auberge dü Saint Graal« einzukehren. Es gibt – natürlich – ein Pilzgericht.

Was nun lesen? Die Machart von Handkes Essays oder Erzählungen »für sich« demonstriert der Versuch über den Stillen Ort. Er ist eine würdige und selbstironische Fortsetzung der Versuche, verdient es, furchtlos und neugierig gelesen zu werden. Der Versuch über den Pilznarren ist mehr als nur die Variation über ein Thema. In ihm reist, wer es nachvollziehen mag, durch Handkeland, begleitet den Wanderer auf eben jenen heimlichen Wegen und hat umso mehr davon, je länger er das in Form vergangener Lektüren bereits getan hat. 
Testamentarisch ist der neue Versuch, dabei kein Monument, vielleicht einer der schönsten Texte, die Handke bis jetzt geschrieben hat.

Peter Handke: Versuch über den Stillen Ort. Suhrkamp 2012. 17,95 €, E-Buch 15,99 €.
Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Suhrkamp 2013. 18,95 €, E-Buch 15,99 €.

Bild (c) Silvia Springorum

Kick-Off des Literatürk Festivals am 20. September

Veröffentlicht am 18. September 2014

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Vom 1.-10. Oktober 2014 feiert das Literatürk Festival sein 10-jähriges Bestehen mit spannenden Lesungen, musikalischen Beiträgen und einer Theaterinszenierung im Ruhrgebiet. Bereits letztes Jahr hat die fusznote in Heft 6 über das deutsch-türkische Literaturfestival aus Essen berichtet. Schaut noch einmal rein in unser PDF und erfahrt, wie das Festival 2005 entstand und was das Team um Semra Uzun-Oender und Fatma Uzun seinem Publikum an unterhaltsamen Veranstlatungen geboten hat.

In diesem Jahr startet das Literatürk bereits am 20. September mit einem Kick-Off. Um 20 Uhr findet im Audimax der Uni Essen die Vorabpremiere der Dokumentation „Die Blendung“ des Journalisten Can Dündar statt. Der Filmemacher, der selbst im Rahmen der Protestbewegung auf dem Taksim Platz in Instanbul ein Opfer der Übergriffe von der Polizei gegen die Demonstranten wurde, hat sechs Männer begleitet, die durch die Ausschreitungen  ihr Augenlicht verloren. Die Dokumentation fokussiert in starken Bildern die Ursprünge der Gezi-Bewegung im Frühsommer 2013 zusammen mit den Schicksalen der jungen Männer. Der Eintritt zu der Veranstaltung ist frei.

Was es sonst noch rund um das Festival im Oktober zu entdecken gibt, könnt ihr jetzt schon einmal der Homepage des Literatürk entnehmen. Es erwarten euch in diesem Jahr unter dem Motto „Zeit“ wieder interessante Lesungen mit namhaften türkischen oder deutsch-türkischen Autoren, wie Feridun Zaimoglu, Murat Uyurkulak oder Alper Canigüz.

Das Literatürk findet: Es ist Zeit, auszuschenken! In diesem Sinne gratulieren wir unserem Medienpartner Literatürk und stoßen auf euch an! Auf zehn weitere Jahre eures Festivals!

 

Wettbewerb: Bochums Bücher

Veröffentlicht am 26. August 2014

Bücherwürmer aufgepasst!

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Die Ruhr-Universität Bochum zählt mit ihren knapp 41.456 Studierenden zu einer der größten Universitäten Deutschlands. Unter dieser Vielzahl an schlauen Köpfen sind Kreative gesucht! Zum Thema „50 Jahre Universitätsstadt“ werden im Rahmen des Wettbewerbs „Bochums Bücher“ Ideen zur Umsetzung diverser Plastiken gesammelt. Da ein Buch das Stadtwappen Bochums ziert, sollen anlässlich des Jubiläums der Universität 2015 Plastiken in Buchform in der Stadt aufgestellt werden. Ideen zur Gestaltung können in verschiedenen Formaten eingereicht werden, egal ob es sich um Zeichnungen, Texte oder Fotos handelt.Wenn ihr Glück habt, steht bald „euer Buch“ mit eurem Namen in Bochum und kann bestaunt werden! Einsendeschluss ist der 15. November 2014.

Nähere Informationen zu dem Wettbewerb „Bochums Bücher“ erhaltet ihr hier oder anbei im PDF-Format.

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