Virtuelle Texte:
Die Konstitution von Text als Gegenstand literaturgeschichtlichen Wissens (Start 7/2023) 

Das Projekt untersucht für einen bestimmten historischen Beispielbereich die Rolle des Virtuellen bei der Konstitution von Texten als den zentralen Gegenständen literaturgeschichtlichen und philologischen Wissens. Es geht von der Vorannahme aus, dass diese nicht einfach als gegeben vorliegen, sondern dass Textualität zugeschrieben wird und Texte durch unterschiedliche transkriptive Verfahren hergestellt werden. Das Projekt folgt dabei der Arbeitshypothese, dass text-konstituierenden Verfahren und den mit ihnen verbundenen Konzeptualisierungen von Text nicht erst unter digital-technischen Bedingungen ein Moment von Virtualität eignet, insofern diese immer wieder einen erschlossenen, potentiellen, ungreifbaren, nichtaktualisierten jedoch theoretisch hypostasierten Text oder Textzustand als Bezugsgröße voraussetzen, der dennoch Rezeption und Deutung nachhaltig mitbestimmt. 

Im Anschluss an das Forschungsprogramm des SFB 1567 Virtuelle Lebenswelten fragt das Projekt nach den unterschiedlichen Wahrnehmungsangebote, Beobachtungsmöglichkeiten und -bedingungen sowie auf die Operationalität, die mit der Virtualisierung von Text in nicht-digitalen Prozessen der Textkonstitution und mit digital konstituierten virtuellen Text-Bild-Objekten verbunden sind. Es zielt dabei nicht auf eine umfassende metatheoretische Reflexion dieses Problembereichs, sondern versteht sich als Studie, die vorliegende theoretische und methodologische Überlegungen aufgreift, für einen konkreten historischen Beispielbereich prüft, diskutiert und im Rahmen einer eigenen digitalen Edition erprobt, die also vergangene und neueste Modellierungen von Text und Textualität theoretisch und empirisch nebeneinanderstellt.

Mit dem Sunte Marien Wortegarde Könemanns von Jerxheim (ca. 1240–1316) und der anonymen De Mynnen Rede  (14. Jh.), wird ein Material ausgewählt, das sich insofern gut als Erprobungsbereich eignet, als sich seine spezifische Gestalt, Materialität und Überlieferungssituation, seine Textualitätsentwürfe und Schriftpraktiken, in vielerlei Hinsicht den Abgrenzungs-, Kohärenz- und Kohäsionserwartungen verweigern, die mit literaturwissenschaftlichen Textkonzepten und Taxonomien in der Regel verbunden sind. Das Material bietet so eine komplexe Problemlage, an der sich Verfahren der Textkonstitution deutlich zeigen..

Virtual texts – handwritten books: The making of ‚text‘ as object of knowledge in literary studies 

The project investigates the role of the virtual in the constitution of texts as the central objects of literary history and philology. It is based on the assumption that texts do not simply exist as given, but that textuality is attributed to them and that they are produced by different transcriptive procedures. The project follows the working hypothesis that these processes of text-constitution and the conceptualizations of text by which they are determined involve virtuality: They often presuppose potential, intangible, non-actualized but theoretically hypostasized texts or textual states as reference values and they bestow them with a very strong influence on reception and interpretation. 

Following the research program of the SFB 1567, the project investigates into the different affordances, the perceptual conditions, and the operativeness  associated with the virtualization of text in non-digital processes of text constitution and with digitally constituted virtual text-image objects. Yet, it does not aim at a meta-theoretical reflection of this question but takes up existing theoretical and methodological considerations to discuss them with regard to a specific example and to test them empirically and in practice by producing a new digital edition ourselves. Thus, past and recent ways of modeling text and textuality can be juxtaposed.

Koenemann’s von Jerxheim Sunte Marien Wortegarde (1240-1316) and the anonymous De Mynnen Rede (14th century) offer a material that seems to be particularly well suited to pursue this question: Their Gestalt, materiality, and transmission history, their writing practices and their ways of staging textuality differ in many in many respects from the coherence- and cohesion-expectations usually associated with literary studies. They interfere with ‘classical’ textual concepts and taxonomies, and they even blur the boundaries that usually define a text. Thus, the material offers a complex set of problems against which means and effects of textual constitution can be highlighted.

Teilprojekt B04 im SFB 1567 ‚Virtuelle Lebenswelten‘

 

Handhabe und Anweisung in der ‚Kunstliteratur’ der Frühen Neuzeit (2021-2024) 

zusammen mit Wolf–Dietrich Löhr

Fachthematische Schriften aus dem Bereich der gestaltenden Künste weisen eine Reihe unterschiedlicher Strategien der Vermittlung von Verfahrenswissen und Herstellungstechniken auf: Sie präsentieren ihre Erklärungen und Rezepte durch bestimmte Rhetoriken, verknüpfen sie mit anderen Informationen, binden sie an bestimmte Vertextungsmuster, Diagrammformen oder Bildprogramme, inszenieren sie im Rahmen bestimmter Konventionalitäten, gestalten sie im Hinblick auf unterschiedliche Kommunikationsanliegen und -gemeinschaften. Kurz gesagt: Handschriften und Drucke der frühen Neuzeit inszenieren ‘techne’ in einem sehr umfassenden Sinne. Ihre Narrationen werden dabei, so unsere Arbeitshypothese, zu Bestandteilen allgemeiner Vorstellungen, zu Elementen eines gemeinsamen Imaginären, das die Wahrnehmung von ‘techne’ mitbestimmt. Das Projekt wird Schriften der italienischen und deutschen ‚Kunstliteratur’ im Hinblick darauf untersuchen, wie in ihren verschiedenen Narrativen die Interaktion der Akteure mit Werkzeugen, Geräten und Materialien veranschaulicht, Verfahren detailliert beschrieben, im Zusammenwirken von Bild und Text oder Text und Objekt präsentiert und inszeniert werden. Es fragt danach, wie handwerkliches Wissen expliziert oder über Formate wie Vorlagen, Schablonen und Formen des Rezeptarischen in Abbreviatur präsentiert wird und inwiefern auch dem Verschweigen und Überspringen ein inszenatorisches Potenzial eignet, das ‘techne’ und ihre Produkte gerade durch einen Gestus des Entzugs als Wunderbares, als artistische Fertigkeit oder als technische Leichtigkeit positioniert. ‘techne’ bildet dann sowohl den textuellen Bezugspunkt als auch eine kommunikative Leerstelle, die auf ein künstlerisches Verfahren verweist, das erst im Objekt aufscheint.Der Fokus auf solche text-bildlichen Inszenierungen schließt die Frage ein, inwiefern diese selbst vielfach bestimmt sind: durch literarische Konventionen, durch überlieferte oder neue Ordnungs- und Sammlungszusammenhänge, durch Aufzeichnungspraktiken der Manuskriptkultur oder die Herstellungspraktiken und Angebotsprofile der Verleger und Drucker. Auf diese Weise kann die Vermittlung von Material- und Verfahrenswissen für die künstlerische Gestaltung kontextualisiert werden als ein historisches Konzept, als eine Narration von ‘techne’, deren Profil nicht allein durch die Werkstätten zu bestimmen ist, in denen Arbeitsweisen und Techniken gefunden, erprobt und verändert werden. Lesbar ist ‘techne’ im Schnittpunkt ihrer textuellen Inszenierung und den Spuren, die sie am künstlerischen Objekt hinterlässt. Die doppelte Besetzung des Projekts – durch die Kunstwissenschaft einerseits und die Literaturwissenschaft andererseits – soll den spezifischen Konstellationen von Repräsentation und Realisation von ‘techne’ Rechnung tragen.

Teilprojekt D der Forschungsgruppe

 
 
 
Commentarial Forms in Literature/ Kommentarformen in der Literatur (DAAD, PPP 2020-2021)

It seems obvious that literature and commentary belong together: Since antiquity commentaries have accompanied sacred, cultural, and literary texts, serving to justify and stage their relevance and canonicity. As an “enhancement” of written form and as a special „institution of reappropriation“ (Assmann 1995, 10, 22), commentaries are instruments for the transmission of legal and religious norms and values, as well as purveyors of ancient knowledge which has to be preserved verbatim and yet be kept open for future communication (e.g. De Boer 2018). In this context, commentary appears as a textual form/means for constituting and stabilizing traditions, endowing them with dignity while at the same time deriving its own validity claims from these very traditions. Thus, the study of commentary can be useful to describe aspects of authority, institutionality, and empowerment (Most 1999, Foucault 1970). Especially in premodern cultures, commentaries do not only ‘serve’ the text they accompany, but they also tend to follow their very own interests. In many instances, they operate as segues into other thematic contexts, they allow for polemics, they exploit the commentarial licenses to pursue particular aims, and they loosen coherent structures in a variety of ways (e.g. Enenkel/Nellen 2013). Despite these diverse functions of commentary, most researchers assume at least one aspect to be constitutive for nearly all forms of commentary: that of secondariness and belatedness. Hence, commentaries appear as subordinate textual elements added at a later time that mediate between the primary text and its (later) recipients from a third position, explaining difficult grammar, staking out a specific semantic scope, interpreting the pretext – perhaps even contrary to the original intention. In this sense, Grafton (2010, 226), for instance, speaks of the commentator as a „parasite“. Such an ontological definition of commentary as a subsequent text, however, largely ignores textual phenomena that benefit from the power and interpretive potential of commentarial gestures without necessarily occupying a subsequent (‘parasitic’) position. It ignores above all vernacular narrations, songs and poems that make use of commentarial gestures in a creative way, deriving their prestige or simply their very particular form of (in-)coherence from their status as alleged commentary. And it ignores texts that stage themselves as being worthy of commentary; texts, in other words, that display value through commentarial gestures, or that surround themselves with commentary that is neither belated nor from a different author’s hand. Thus, literary forms that are staged like/as a commentary, that show verbal and textual gestures, claims, and ‘postures’ of commentary, have not yet received much attention among literary historians, and, exceptions notwithstanding, are also excluded from the main-stream-research on commentary for the reasons described above.

The project brings together scholars in Arabic, German, Jewish, and Romance literatures at the University of Toronto (UoT) and Goethe University Frankfurt/Main (GU). We will comparatively investigate connections between commentary and literature in medieval and early modern cultures. We want to explore commentarial forms in literature as well as commentarial forms to stage literature as an ennobled mode of written communication. The working hypothesis of our research project is as follows: Cultures wherein figures and practices of commentary constitute an essential part of the textual archives extend those practices to communication outside of or on the margin of the predominant, dogmatically, or institutionally secured discourses. Thus, literature (and not only antique cultural texts) benefits from the commentary’s authoritative implications, communicative effects, and claims of validity. Accordingly, we will investigate the interplay between commentary and literature: How do forms of commentary become tangible in storytelling? How do they determine the forms of poetry or hymns? How do they accompany literary texts, poems, and songs? And finally: How do they function as elements of a primary or at least contempo­raneous „authorized“ ‘staging’ of the text, communicating its status through paratext, metatext, and mise-en-page? We propose to ask, how authors of (self-)commentaries authorize or theorize their own poetry or poetry in general, and how those commenting, self-reflexive gestures towards the lyric tradition may include intertextual references that highlight discursive structures of the hypotext (e.g. Kablitz 1993). From a comparative perspective, we will investigate how figures, functions, and effects of commentary were applied to enhance the prestige of literature, to control its reception, or constitute a poetic form in the first place. In short, we will study the ways in which literary texts make use of, refer to, and integrate commentarial forms, and take advantage of the operational dimension of commentary as a gesture of metatextual reference.

PPP Program for Project-Related Personal Exchange with Canada (DAAD)  

 

Geometria Deutsch. Druckwerke der praktischen Geometrie bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts

Druckwerke der praktischen Geometrie inszenieren sich in einem Netz von verschiedenen Praktiken und reflektieren sich als Text-Bild-Verbünde, die erst im Zusammenspiel mit anderen Objekten (z.B. Lineal und Zirkel, Messrute und Jakobstab) Bedeutung konstituieren. Immer wieder setzen sie auf eine Lektüre, die Text, Diagramm, geometrisches Instrument und praktische Übung miteinander vermittelt, bzw. sie behaupten die Notwendigkeit einer solchen Rezeptionsweise als Voraussetzung des Verstehens. Von der Kunstwissenschaft oder der Wissens- und Mediengeschichte sind diese Texte zwar gelegentlich als Quellen genutzt worden, doch die Druckwerke selbst, ihre Faktur, ihre Vertextungsmuster oder ihre genuine Rhetorizität gerieten bisher kaum in den Blick. Wo dies punktuell dennoch geschah, wurde dabei die von den Texten behauptete didaktische Intention a priori als primäres Ziel der Text- und Buchgestaltung gesetzt. Eine nähere Analyse jedoch zeigt eine heterogene Befundlage: Die von den Druckwerken behauptete Praktikabilität wird von den Lehrschriften in sehr unterschiedlichem Maße eingelöst, Überexplizierung und unverständliche Verkürzung im geometrischen „Zitat“, darstellerische Ökonomie und scheinbar überflüssiger Zusatz etwa stehen immer wieder nebeneinander. Der Kanon vorgestellter Verfahren und die Formen ihrer Präsentation adressieren zwar eine handwerkliche Praxis, aber ebenso folgen sie einer textuellen Traditionsbildung. Einige der Schriften scheinen dabei besonders auf Bedürfnisse der höfischen Repräsentation zu antworten, andere weisen in das Umfeld städtischer, humanistischer Kommunikationssituationen, wieder andere scheinen eine Offizin und ihre Möglichkeiten besonders zu empfehlen oder attribuieren bestimmte Wissensbestände einem Verfasser oder Widmungsempfänger. Kurz gesagt: Es ist zu vermuten, dass die jeweilige Faktur der Schriften, ihre multiple Adressierung, die verschiedenen Arten an Traditionen anzuknüpfen und eigene auszubilden sowie ihre unterschiedlichen Bemühungen Wissen und Können zu transkribieren auf eine Polyfunktionalität dieser Druckwerke verweisen, die mit Stichworten wie „Lehrschrift“, „Fachliteratur“ o.Ä. zu einem guten Teil ausgeblendet wird. Besonders solche Momente, die auf eine spezifische und ostentativ inszenierte Ästhetik fachthematischer Druckschriften verweisen, sind damit nivelliert.Für das Projekt leitend wird die Arbeitshypothese sein, dass sich für die deutschen Geometrieschriften eine handlungsanweisende didaktische Funktion und eine für vielfältige Kommunikationsinteressen anschlussfähige „geometrische“ Literarizität und Ästhetik immer neu verschränken. In einer vergleichenden Analyse der volkssprachigen Druckwerke der konstruktiven Geometrie und der abmessenden Geometrie soll beiden Aspekten nachgegangen werden.

DFG Sachmittelprojekt 2018-2021