Am 13.10.2023 hat das IQB die „Bildungstrends“ zum Jahr 2022 vorgestellt. Ausführlich erläutert werden die Ergebnisse zu Kompetenzen von Neuntklässler_innen in den Fächern Deutsch und Englisch hier: IQB – Bericht (hu-berlin.de) Der Bericht ist nicht zuletzt aufgrund der instruktiven Graphiken einen Besuch Wert.

Lesenswert sind wie immer auch die auf der Seite zu findenden Beispielaufgaben, die zeigen, wie die Ergebnisse erhoben wurden.

Studierende des Lehramts können hineinsehen und sich auch selbst testen.

Hier einige Anmerkungen zum Ergebnisbericht,  (1.) zu exemplarischen Ergebnissen, (2.) zu Problemen des Faches Deutsch; (3.) zu den Daten & zur empirischen Bildungsforschung.

(1.) Die ERGEBNISSE sind schlecht und zeigen zudem e. stark negativen Trend 2015-2022, der tlws. schon 2009 einsetzte. Ich beschränke mich exemplarisch auf den Bereich Lesen, was möglich ist, da die Ergebnisse für Zuhören u. Orthographie ähnlich sind. Auch schaue ich nur bsp.haft auf Bund & NRW. Vorab sei angemerkt, dass der Negativtrend im Bereich Orthographie, die heute oft symbolisch für Leistungsschwäche steht, noch am geringsten ausfällt. Erhoben wurde unter anderem, wie viele SuS sog. Mindest-, Regel- und Optimalstandards erreichen, und zwar in verschiedenen Gruppen (alle Angaben gerundet).

Von allen SuS verfehlen 15% (D) bzw. 20% (NRW) den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss („Hauptschulabschluss“). Perspektivisch dramatischer ist aber, dass 33% (D) bzw. 39% (NRW) die Mindeststandards für den Mittleren Schulabschluss MSA („Realschulabschluss“) nicht erreichen, der für viele anspruchsvolle Tätigkeiten eine untere Schwelle bildet. Unklar ist, wie dies zum Ideal der wissensbasierten Gesellschaft passt. Bemerkenswert ist auch, dass viele SuS, die mindestens den MSA erwerben WOLLEN, ebenfalls die MSA-Mindeststandards verfehlen, und zwar zu 23% (D) bzw. 28% (NRW). Vom Lesen fiktiv hochgerechnet dürften diese SuS eigentlich den Abschluss nicht erhalten. Nur 4% (D) bzw. 3% (NRW) der SuS, die mind. den MSA anstreben, erreichen den MSA-Optimalstandard.

Extra berechnet wurde auch die Gruppe der 9-Klässler_innen, die ein Gymnasium besuchen. Sie erreichen immerhin zu 72% (D) bzw. 70% (NRW) den Regelstandard für den MSA, allerdings auch hier nur zu 8% (D) bzw. 7% (NRW) den Optimalstandard! Zahlen zu Geschlechtern, sozialem und Zuwanderungshintergrund überraschen nicht.

(2.) DEUTSCHUNTERRICHT: Sorgen macht der DU. Für Didaktiker_innen sind die Bildungstrends hier bes. interessant. Oft betont wurde, dass die Zahlen für Deutsch klar schlechter sind als die für Englisch. Was ist für Deutsch wichtig? Das Interesse am Fach ist wenig ausgeprägt, 44% d. SuS zeigen ein schwaches Interesse (Englisch: 22%), nur jeder fünfte ein hohes. Auch hier zeigt sich ein klar negativer Trend, stärker für Interesse als im Selbstkonzept.

Wichtig: Anders als in Englisch sind die Werte NICHT an Kompetenzen gebunden. Gute und schwache SuS sind daher ähnlich uninteressiert am Fach. Das ist imho ein dramatischer Befund. Weiter gilt: Das Fähigkeitsselbstkonzept der SuS liegt für Deutsch auf einer vierstufigen Skala im Mittel bei hohen 3,11. Die SuS schätzen sich zu etwa 70% als kompetent ein, nur 10% haben ein niedriges Selbstkonzept. Hier ist wichtig, dass der Zusammenhang zw. Selbstkonzept und Kompetenzen (am Bsp. Lesen) schwach ausgeprägt ist. Flapsig gesagt: bessere und schwächere SuS bewerten ihre Fähigkeiten jwls. als eher positiv. Auch das ist dramatisch.

Die Bildungstrends ergehen sich in allerhand Spekulationen, woher das niedrige Interesse rühren könnte, was im Wesentlichen didaktische Stereotypen reproduziert. Nicht gefragt wird z. B., ob die sogenannte „Kompetenzorientierung“ etwa zum fehlenden Interesse besserer Schüler_innen am DU beiträgt.

(3.) EMPIRISCHE BILDUNGSFORSCHUNG/DIDAKTIK: Am Ende der Trends ist ein Kapitel zur Unterrichtsqualität versteckt. Das ist eher etwas für Expert_innen, aber hat es imho in sich, da sich hier die emp. Bildungsforschung & das bildungswissenschaftliche Selbstgespräch der letzten Jahrzehnte selbst in Frage stellen.

Es wird versucht zu erheben, was die sog. „Unterrichtsqualität“ mit den Ergebnissen zu tun hat. Die Qualität wird d. communis opinio folgend über e. Unterrichtsoberflächenstruktur (Sozialform & Methodik etc.) & eine Tiefenstruktur (Klassenführung, konstruktive Unterstützung d. SuS & kognitive Aktivierung) erhoben. Unter anderem sind die Ergebnisse zur Oberflächenstruktur sehr interessant. Das zentrale Ergebnis aber ist: Kompetenzunterschiede hängen überwiegend mit besuchten Schularten und Klassen zusammen. Dagegen gilt, dass „weder die […] Oberflächenmerkmale noch die […] Tiefenmerkmale bedeutsam mit den erreichten mittleren Kompetenzen zusammenhängen.“ (375)

Bezogen auf einzelne SuS sind die Kompetenzen bei den SuS signifikant höher, die den Unterricht im Vergleich zu Mitschüler_innen als stärker konstruktiv unterstützend und als weniger kognitiv aktivierend einschätzen. Auch interagieren die Tiefenmerkmale immerhin mit den motivationalen Merkmalen, wie sich klassenweise feststellen lässt. Konstruktive Unterstützung ist hier mit höherem Selbstkonzept & Interesse verbunden, geringere kognitive Aktivierung mit höherem Selbstkonzept.

All dies gibt zu Fragen Anlass, etwa: Ist ein hohes Fähigkeitsselbstkonzept grundsätzlich positiv – wie oft suggeriert wird –, also auch, wenn ihm keine Fähigkeiten entsprechen? Und gegenläufig: ist hohe kognitive Aktivierung im Unterricht gut, wie oft suggeriert wird? Hierzu merken die Bildungstrends nun an, diese werde wohl teils von SuS als „Überforderung“ (381) aufgefasst.